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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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aus unterschiedlichen Gründen in Ungnade gefallen waren, unter Zwang getrennt worden. Oft hatten sie danach eine Heimkarriere mit Drill und Fremdbestimmung durchlaufen, denn allzu vielen war es nicht gelungen, in einer Ersatzfamilie Aufnahme zu finden. Ich erkannte, dass mein Lebensweg im Vergleich zu den meisten geschilderten Schicksalen noch glimpflich verlaufen war.
    In einer Hinsicht erwies sich meine nächtliche Surftour als wegweisend: Ich entdeckte den Hinweis, dass die Adoptionsvermittlungsstellen der Jugendämter nicht nur Kontakte zu den leiblichen Eltern vermittelten, sondern den Adoptierten unter Aufsicht auch Einblick in ihre Akte gewährten. Eigentlich ein naheliegender Gedanke, der für mich jedoch vollkommen neu war. Ich musste mich erst einmal mit der Vorstellung vertraut machen, dass mir eigene Persönlichkeitsrechte zustanden. Mehr als fünfunddreißig Jahre nach der erzwungenen Trennung von meiner leiblichen Mutter sah ich nun einen Weg, das rätselhafte Geschehen von damals zu entschlüsseln.
    Mit Herzklopfen wählte ich am nächsten Morgen die angegebene Telefonnummer der Jugendhilfestelle Gera. Ich hatte Glück: Statt mich gleich zu Beginn abzuweisen und mich damit gänzlich zu entmutigen, notierte sich die hilfsbereite Sachbearbeiterin mein Anliegen und meldete sich tatsächlich zwei Tage später mit der erfreulichen Botschaft: »Sie können Ihre Unterlagen hier in meinem Büro gemeinsam mit mir einsehen.«

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    33 .
    D er Gang zum Amt erschien mir wie die Zeitreise in ein für mich lange unzugängliches Gebiet, weshalb für mich diese Exkursion eine feierliche Note hatte. Im Archiv der Geraer Adoptionsvermittlungsstelle war das Schicksal meiner Mutter eingelagert. Es war in zwei Kladden dokumentiert, aus denen mir die Sachbearbeiterin in insgesamt vier Sitzungen vorlas – die Niederschrift einer DDR -Häftlingskarriere: Im Jahr 1967 hatte Mama neun Monate Haft in Gera und Leipzig zu verbüßen, von Februar bis November 1972 das Arbeitskommando in Quedlinburg abzuleisten, im Oktober/November 1973 war sie zur Untersuchungshaft in Greiz, nach der Urteilsverkündung bis Frühjahr 1978 im Gefängnis Roter Ochse in Halle und von März bis August 1979 in Markkleeberg bei Leipzig. Dazwischen gab es immer wieder Gerichtstermine, Urteile, Gnadengesuche.
    Zwischendurch musste ich die nette Sachbearbeiterin bitten, ihre Lesung für einen Moment zu unterbrechen. Wie eine Achterbahnfahrt durch eine fremde Vergangenheit wirkte die Chronik auf mich. Mir schwindelte. Zu unvorbereitet traf mich das komprimierte Lebenslos meiner Mama. Erst jetzt, bei der Konfrontation mit den Dokumenten, erfasste ich den ganzen Wahrheitsgehalt ihrer Gefängniserfahrungen, in die sie uns bei meinem ersten Besuch nach all den Jahren nur einen winzigen Einblick gewährt hatte. Es war kein schlecht inszenierter Politkrimi, sondern die blanke Wirklichkeit. Wie kann mir all das zu DDR-Zeiten nur komplett entgangen sein?, grübelte ich. Ich war doch in demselben Staat zu Hause? Was mir kurz nach der Wende noch streckenweise wie ein Vorwand meiner Mama erschienen war, sich nicht um meinen Bruder und mich kümmern zu müssen, sah ich nun schwarz auf weiß bestätigt: Das DDR -Regime hatte diese Frau jahrelang ihrer Freiheit beraubt. Damit hatte es auch nicht in ihrer Entscheidungsmacht gelegen, ob wir uns je wiedersehen konnten.
    Warum? Als Grund für ihre Verurteilungen in den Jahren 1972 und 1973 war nur knapp vermerkt: »Gef. d. öffentl. Ordn. d. asoz. Verhalten.« Entziffert hieß das: »Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten.« Was es mit diesem Delikt auf sich hatte, erschloss sich mir nicht auf Anhieb. In den Unterlagen fanden sich Hinweise, dass die Angeklagte gelegentlich ihrem Arbeitsplatz ferngeblieben war. Beschwerden über Arbeitsbummelei und schlechte Arbeitsmoral häuften sich. Hatte sie tatsächlich ein Lotterleben geführt, wie es meine Adoptivmutter einst so geheimnisvoll angedeutet hatte? War sie deshalb mit dem Gesetz in Konflikt geraten?
    Gegenstand eines weiteren Verfahrens vor dem Familiengericht Gera waren wir Kinder – also alles, was meiner Mama damals noch geblieben war. Nicht eine einzige Vorwarnung, uns ihr zu entziehen, fand sich in der Akte, dafür zahlreiche Belege für die offenbar ausgeprägte Sammelleidenschaft der zuständigen Stellen. Einer Notiz zufolge hatte mein Bruder häufig unentschuldigt in der Schule gefehlt. In einem weiteren Vermerk hieß es, dass er im

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