Entrissen
als Untermieterin vorstellte.
Fast schon wie eine eigene Tochter führten mich meine Gastgeber in ihre Küche, wo meine neue Oma Erna wartend in der Tür stand. Auch sie strich mir zur Begrüßung liebevoll übers Haar und bat mich dann an den gedeckten Tisch. Mein neuer Papa holte für mich ein Kissen aus der Wohnstube, damit ich ausreichend hoch sitzen konnte. Die Großmutter tauchte die Kelle in den Eintopf, den sie am Morgen zubereitet hatte, und füllte damit meinen Teller. Als sie sich niederließ, fiel mir auf, dass sie frisch gewaschene Geschirrtücher unter ihr Sitzkissen gelegt hatte, um sie, statt sie zu bügeln, mit ihrem stattlichen Hintern plattzudrücken.
Jetzt merkte ich erst, welch großen Hunger ich hatte. Die Krönung war aber das Kompott zum Nachtisch, mit einer leckeren »Familiensoße«, wie sie im Scherz zu Vanillesoße sagten. Im Heim waren solche Desserts eine große Ausnahme.
Nach dem Essen fordert meine neue Mutter mich auf, mich auf der Couch in der Stube zum Mittagsschlaf hinzulegen – wie ich es fortan täglich zu praktizieren hatte. Ich konnte nicht einschlafen, weil ich es nicht mehr gewohnt war, allein dazuliegen. Erst als auch Oma Erna kam, um sich ein wenig aufs Ohr zu legen, fand ich in den Schlaf. Ihre körperliche Nähe beruhigte mich und gab mir Sicherheit. Als sie vor mir aufstand, geriet ich prompt in Panik – nicht weil sie weg war, sondern weil ich mich um ihr Versprechen betrogen fühlte, dass sie bei mir blieb. Künftig wurde ich im Vorraum ihres Dachzimmers einquartiert, was mir gut gefiel. Oma Erna war mir nahe und bald schon meine Hauptvertraute. Ihre füllige Figur vermittelte mir mütterliche Behaglichkeit.
Ich zeigte mich als dankbarer Hausgast in dieser Dachkammer. Schließlich wusste ich, dass die Erwachsenen das so wollten. Wenn ich mich in diesem neuen Zuhause nicht vorbildlich benahm, das war mir ständig bewusst, dann konnte ich es jederzeit wieder verlieren. So lernte ich bald, den Erwartungen meiner neuen Angehörigen entgegenzukommen.
Sie taten alles, um mir dieses Bemühen zu erleichtern. Seit meiner Ankunft weckte der Duft frischer Lebkuchen meine Vorfreude auf das Weihnachtsfest, und ich wurde zu meiner Genugtuung in die Vorbereitungen einbezogen. Am schönsten war es für mich, die Tiegel mit den Teigresten für die Plätzchen auszuschlecken. Es wurde eingekauft und gebacken, und im Vorratskeller harrte der gemeuchelte Hase aus dem Stall des Großvaters seiner Bestimmung als Festtagsbraten.
An Heiligabend durfte ich meiner angehenden Adoptivmutter helfen, den Weihnachtsbaum mit Kugeln, Lichterketten, Lametta, Schokoladenfiguren und dem Leuchtstern zu dekorieren. Sie behandelte mich sehr aufmerksam und lobte mich sogar: »Katrin, das hast du prima gemacht.«
Nach dem Essen nahm sich der Hausherr eigens Zeit, um im Garten mit mir einen Schneemann zu bauen. Für einen Moment fühlte ich mich zurückversetzt in den Hof hinter Omas Haus, wo die Kohlen lagerten. Dort hatte ich mit meinem Bruder immer Figuren aus Schnee geformt. Kohlestückchen für die Augen gab es dort genug. Aber ich schob diese Erinnerung schnell wieder beiseite, weil sie mir einen Stich versetzte, und bemühte mich nach Kräften, die begeisterte Tochter zu mimen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich jemanden, zu dem ich Vati sagen konnte. Ich hätte eigentlich in meinem neuen Familiengefühl schwelgen müssen.
So vermochte ich es damals aber nicht zu erleben. Die Erfahrungen und Enttäuschungen als Heimkind hatten mein Gefühlsempfinden stumpf werden lassen. Apathisch nahm ich das wechselhafte Programm hin, wie es sich eben ergab. Zu tiefer innerer Freude oder gar Begeisterung fühlte ich mich nicht mehr fähig, Vertrauen konnte ich nicht aufbringen. Warum sollte ich Gefühle zulassen, wenn diese neuen Erlebnisse vielleicht bald wieder abrupt endeten? Ich machte gute Miene zu diesem Spiel, und es gab ja wahrlich genug Gründe dafür. Aber meine Seele fühlte sich nach wie vor irgendwie betäubt an.
Trotzdem war ich aufgeregt, als wir im Haus unsere schneebestäubten Schuhe abklopften und zum Trocknen nebeneinanderstellten. Welches Kind kann sich schon der Weihnachtsmagie entziehen? Kurz darauf klingelte es, ein Erwachsener ging zur Tür und überbrachte die frohe Botschaft: Der Weihnachtsmann sei da gewesen. Die Wohnzimmertür tat sich auf zur Bescherung, und der Kerzenzauber überstrahlte alle trüben Gedanken. Unter dem Lichterbaum standen Teller, gefüllt mit Lebkuchen,
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