Entrissen
Schokofiguren, Apfelsinen und Nüssen. Aber mein Blick fiel sofort auf den beigefarbenen Teddybären mit dem hellblauen Lätzchen, in den ich mich auf Anhieb verliebte – nachhaltig.
Der Bär, den ich Bruno taufte und der mir zum Seelentröster wurde, hat bei mir nicht nur den Untergang der DDR überdauert, er hat mir sogar danach noch beinahe zwei Jahrzehnte Gesellschaft geleistet, bevor ich mich nach einem heftigen Streit mit meiner Pflegemutter symbolhaft von meinem treuen Begleiter trennte.
Damals unterm Weihnachtsbaum umarmte ich das samtweiche Kuscheltier, das wirklich nur mir allein gehörte. Zum ersten Mal nach annähernd zwei Jahren hatte ich den Eindruck, etwas Vertrautes zu erleben. Das Weihnachtsgefühl kannte ich ja noch aus meiner frühen Kindheit. Ich durfte an Erfahrungen anknüpfen, die ich mehr im Gespür als im Gedächtnis hatte. Ich atmete den Stallgeruch von Familie.
In jenen Tagen war das Haus stets voller Gäste. Meine Gasteltern waren zwar kinderlos, legten aber großen Wert auf familiären Zusammenhalt. Da gab es zum einen den Großvater väterlicherseits, der bei der Hochzeit mit seiner zweiten Ehefrau quasi auch deren beide Enkelkinder als Mitgift erhalten hatte. Zudem hatte der Hausherr zwei Geschwister. Seine ältere Schwester Irene, zu der er allerdings kaum Kontakt pflegte, lebte mit ihrer Familie im nahe gelegenen Ort Hartmannsdorf bei Bad Köstritz, die Familie des ältesten Bruders Karl sogar in unserer Straße. Als besonders wohltuend empfand ich, dass die Erwachsenen im Überfluss Zeit zur Verfügung hatten – auch für mich. Besonders Oma Erna widmete sich mir mit großem Einfühlungsvermögen. Ein leckeres Mahl folgte auf das andere, und dazwischen tobte ich mit dem Nachbarsjungen durch den Schnee.
Doch der Weihnachtsfrieden verflog schneller, als ich mir das je hätte ausmalen können. Kaum waren die Feiertage vorüber und das neue Jahr war eingeläutet, als ich am 2 . Januar 1974 zum familieneigenen Trabbi eskortiert wurde. Als Erklärung bekam ich nur zu hören, dass ich nach der ersten Probezeit noch einmal zurück ins Kinderheim müsse. Ich spürte die drohende Gefahr und wehrte mich wie ein störrischer Esel, das Haus zu verlassen. Wo immer ich einen Griff oder ein Geländer zu fassen bekam, klammerte ich mich daran fest, als wäre ich auf dem Weg zur Schlachtbank. Mit vereinten Kräften mussten meine Gasteltern mich zum Auto zerren. Dabei versuchten sie mich zu trösten und redeten beruhigend auf mich ein.
»Das dauert doch nicht lang«, sagten sie. »Wir holen dich auf jeden Fall bald wieder ab. Wir versprechen es dir hoch und heilig!«
Ich hörte nicht auf ihre vermeintlich leeren Worte, ahnte ich doch ziemlich genau: Sobald ich erst in diesem Gefährt saß, war alles aus. Dann konnten sie mich verfrachten, wohin sie wollten, wie schon meine Mutter in einem Auto auf Nimmerwiedersehen abtransportiert worden war. In heller Panik brüllte ich daher: »Lasst mich! Ich will da nicht hin! Bitte darf ich hierbleiben?« So schweigsam und verstockt ich oft war, jetzt schrie ich so laut, dass die Nachbarn neugierig aus den Fenstern lugten.
Nur nicht schon wieder weg, nicht von neuem abgeschoben werden. Bin ich denn wirklich nur Stückgut, das nach Bedarf hin und her geschickt werden kann? Dieses Mal traf mich wirklich keine Schuld. Ich hatte das Familienspiel brav mitgemacht und mich aufrichtig über den Teddy gefreut. Nie hatte ich auch nur angedeutet, wieder von hier wegzuwollen, keine Träne hatte ich vergossen, keine Ohrfeige einkassiert. Aber anscheinend machten die Erwachsenen sowieso, was sie wollten und verbargen vor den Kindern ihre wahren Absichten.
Meine Kräfte reichten nicht zur Gegenwehr. Am Ende saß ich im sanften Klammergriff auf dem Schoß der Frau, die ich zeitweilig schon für meine neue Mutter gehalten hatte, während der Mann, der sich als mein neuer Vater ausgegeben hatte, den Wagen steuerte – in eine mir nur zu bekannte Gegend. Tatsächlich tauchte nach kurzer Fahrt vor der Windschutzscheibe das altvertraute Kinderheim auf.
Ich konnte es kaum fassen: Erfüllte sich jetzt die Prophezeiung der blonden Erzieherin? Die Worte meiner Großmutter hallten in mir nach: »Es ist deine letzte Chance!« Falls ich hierher zurückkehren würde, wäre es um mich geschehen, meine Heimkarriere gleichsam schon programmiert. Ohne mich. Aus diesem Auto würden sie mich nur mit Gewalt zerren können. Als das Fahrzeug anhielt, sträubte ich mich mit meinem
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