Entrissen
Todesangst packte mich, ich strampelte, schlug um mich, prustete und schluckte die Brühe. Als mein Kopf wieder aus dem Wasser ragte, entdeckte ich meinen Vater nicht. Ich konnte nicht schwimmen, und der Mann, der mich retten sollte, war nirgends zu sehen. Urplötzlich packte mich die Panik wieder. Ich war wie gelähmt vor Angst, erneut einen Vater zu verlieren.
Doch nach wenigen Sekunden – die mir wie eine Ewigkeit erschienen – kam er neben dem kieloben treibenden Boot wieder zum Vorschein. Offenbar war er auf der Suche nach mir unter der Jolle hindurchgetaucht. Mit ein paar Schwimmzügen war er bei mir, zog mich huckepack auf seinen Rücken und beschwor mich: »Halt dich ordentlich fest!«
In heller Panik klammerte ich mich mit beiden Armen so fest um seinen Hals, dass ich ihn fast strangulierte. Als ich merkte, dass er sich trotz meines Würgegriffs sicher über Wasser hielt, ließ meine Anspannung nach. Jetzt fühlte ich mich wieder sicher und gab seinen Hals frei.
Onkel Karl half meinem Vater, mich auf den Rumpf des gekenterten Bötchens zu ziehen. Von dort hievten die Brüder mich mit vereinten Kräften auf das Segelboot eines fremden Paares, das zufällig in der Nähe war und uns aus unserer Seenot half. Für meinen Cousin war unser Abenteuer eher ein Badespaß, mit Leichtigkeit schwang er sich über den Rand unseres Rettungsbootes. Ich dagegen zitterte immer noch am ganzen Leib und hing geschwächt im Bug.
Zu meiner eigenen Verwunderung war die Angst aber weg. Ich hatte erlebt, dass ich mir keine Sorgen um meinen Vater zu machen brauchte. Er wusste sich zu behaupten, und zusammen mit den beiden anderen Helfern war er für mich der Retter, stark und mutig wie ein Held. Er kümmerte sich um mich und ließ mich auch in der Not nicht im Stich. Ich hatte um sein Leben gebangt und dabei eine familiäre Verbindung gespürt. Ich hing an ihm, buchstäblich. Jetzt war er mein Vater, auch in meinem Herzen. Trotzdem nahm ich mir vor, nie wieder ein Segelboot zu betreten. Wenngleich ich diesem Vorsatz treu geblieben bin, vermochte ich doch später immerhin meine Wasserscheu zu überwinden. Nachdem ich schwimmen gelernt hatte, konnte ich dem nassen Element wider Erwarten viel abgewinnen.
Am Ufer nahm mich Mutti, die etwas aufgelöst wirkte, in Empfang. Aber nicht in ihre Arme. Bekümmert fragte sie meinen Vater: »Ist alles in Ordnung?« Unfassbar für mich, dass sie sich als erste Reaktion nicht bei mir erkundigte, wie es mir ging. Dabei konnte es ihr kaum entgangen sein, dass ich soeben nur knapp dem Ertrinken entronnen war. Allein um Vati schien sie sich zu sorgen.
Der war jedoch offenbar auf Schadensbegrenzung bedacht. Spontan wandte er sich mir zu, fragte mich vor aller Ohren: »Ist alles wieder gut? Geht’s wieder?«, und lobte mich für meinen Mut und meine Tapferkeit. Davon konnte nun wirklich nicht die Rede sein, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich war erleichtert. Lob hatte ich im Kinderheim nicht ein einziges Mal zu hören bekommen und auch in dieser Familie nur selten. Dabei ist Anerkennung, wie ich heute weiß, gleichsam ein Grundnahrungsmittel für das Selbstwertgefühl. Nachdem Mutti erfasst hatte, was tatsächlich geschehen war, nahm auch sie mich in den Arm und wärmte mich mit ihrem Handtuch. So wurde der Bootsunfall am Ende zu einer Art Aufnahmeakt in meine neue Familie.
Nach der Übergabe unseres Campingquartiers an Onkel Karl, wollten wir auf dem Heimweg noch den Bruder meiner Mutter besuchen. Über den südlichen Autobahnring um Berlin brauchten wir nicht einmal zwei Stunden, bis wir das Ferienhaus von Onkel Otto und Tante Ingrid erreichten. Ihre gut ausgestattete Datsche in Kallinchen bei Zossen lag ebenfalls nur wenige Meter von einem See, dem Motzener See, entfernt. Es war ihr Hort der Ruhe, während sie sonst in Berlin lebten und arbeiteten.
Zum ersten Mal drang ich hier in die Welt der Kader und Privilegierten vor, von der ich in meinem bisherigen Leben nicht einmal eine leise Ahnung gehabt hatte. Es war ein eher biederes Reich, denn hier gab es keine Prachtvillen, Yachten oder Golfplätze. Im kleinbürgerlich geprägten Realsozialismus war es auch unter besserverdienenden oder, was viel wichtiger war, staatstragenden Genossen verpönt, im Luxus westlichen Standards zu schwelgen.
Doch wer an einem der Seen rund um Berlin oder an der Ostseeküste ein Wochenendhäuschen sein Eigen nennen durfte, stand mit höchster Wahrscheinlichkeit im Dienst der Partei, des Staates, der
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