Entrissen
dann im Klassenzimmer mein Einstandspräsent enthüllt wurde, war ich dennoch verblüfft, denn ein so großes Geschenk hatte ich nie zuvor bekommen. Meine persönliche Zuckertüte erwies sich als Füllhorn voller Süßigkeiten. Die vielen Bonbons und Schokoriegel schmeckten nicht nur süß, sie ließen mich das ungewohnte Gefühl kosten, etwas wert zu sein. Auch unsere neue Klassenlehrerin und die Hortnerin, die für unsere Betreuung nach dem Unterricht zuständig war, begrüßten uns mit Zuckertütchen.
Die meisten meiner Mitschüler aus unserem Stadtteil Langenberg kannte ich schon aus dem Kindergarten. Sie wussten von mir, dass ich neben der Russischlehrerin noch eine »richtige« Mama hatte, die aber irgendwie nicht mehr da war. Nachfragen ersparten sie mir – zum Glück. Obwohl wegen der Probezeit meine offizielle Adoption noch ausstand und ich gesetzlich weiterhin den Namen meiner leiblichen Mama trug, wurde ich im Klassenzimmer bereits mit dem neuen Familiennamen aufgerufen und eingeschult. Meine Mutti hatte das auf dem kurzen Dienstweg im Lehrerkollegium geregelt. Ich fühlte mich auf sicherem Boden, weil meine Eltern in meiner Nähe waren.
Das Lernpensum machte mir von Anfang an Spaß. Lesen, Rechnen und Schreiben betrachtete ich nicht als Pflichtübung, sondern als willkommene Herausforderung. Es war wie ein Spiel, dessen Regeln man lernen musste, um dazuzugehören. Außer in Schreiben, Zeichnen und Sport stand in meinem ersten Halbjahreszeugnis hinter allen Fächern eine Eins.
Nach dem Unterricht war der Schultag aber noch nicht zu Ende. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass einer meiner Klassenkameraden sofort nach Hause gegangen wäre. Wir trafen uns alle im Speiseraum und danach im schuleigenen Hort wieder. Nach dem Essen war die Mittagsruhe obligatorisch. Auch wenn wir nur noch selten wirklich in den Schlaf fanden, mussten wir uns auf die Pritschen legen. Ich liebte diese Auszeit, denn zur Entspannung las die Hortnerin uns jeden Tag eine Geschichte vor.
Grimms Märchen
oder russische Sagen zogen mich stets aufs Neue in ihren Bann. Erzählungen wurden meine Droge, und ich ließ mich von ihnen in das Reich der Fantasie entführen, umso leidenschaftlicher, je trister der Alltag wurde. Auch die Hausaufgaben blieben dem Hort vorbehalten, wenngleich ich bei deren Erledigung stets den unsichtbaren Druck meiner Mutti spürte. Ich wusste, wie wichtig gerade ihr gute Zensuren in der Schule waren.
Am Mittwoch hatten wir hausaufgabenfrei, denn an diesem Tag stand der Pioniernachmittag auf dem Programm. Die Jungen Pioniere waren die unterste Ebene der Parteihierarchie, in mancher Hinsicht vielleicht auch ihre eifrigste. Für uns zählte vor allem der Spaßfaktor. Wir spielten, alberten herum und sagten Reime auf, wie ich es auch aus dem Hort kannte, oder wir bastelten, sangen und packten Pakete. Das alles geschah natürlich nicht ohne einen höheren Sinn. Unsere Wandzeitung, die wir jeden Monat aus Fotos und Zeitungsausschnitten zusammenfügten, pries den Kampftag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus, wie der Tag der Arbeit am 1 . Mai hieß, oder den Weltfrieden – der selbstverständlich im Sozialismus beheimatet war.
Wir sammelten Unterschriften für die Freilassung der schwarzen US -Bürgerrechtlerin Angela Davis oder Hilfsgüter für Bedürftige in Russland und Chile, unsere Verbündeten. Gelegentlich zogen wir von Haus zu Haus, um zur Ressourcenschonung Altstoffe – heute würde man Recyclingmaterial sagen – in unseren Handwagen zu hieven. Unsere Beute brachten wir zum Altwarenhändler und steckten den Erlös in die Klassenkasse oder eine Spendenbüchse. Wir sangen die »Ballade vom kleinen Trompeter«, und ich weinte bitterlich um den armen Jungen, der der Kommunistenhatz in den zwanziger Jahren zum Opfer gefallen war. Wir stimmten auch die trotzig-traurige Hymne der »Moorsoldaten« an, die einige Häftlinge des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Börgermoor 1933 verfasst hatten, oder schlicht Kinderlieder wie »Hänschen klein«.
Ich kann im Nachhinein nicht behaupten, dass wir damals einer ideologischen Gehirnwäsche ausgesetzt waren. Natürlich orientierten sich unser Lernstoff und in gewisser Weise auch unsere Freizeit an den Koordinaten unserer Republik, wie es ebenso in anderen Gemeinwesen, wenngleich unter anderen Vorzeichen, geschieht. Haften geblieben sind bei mir in erster Linie Werte, die mir auch heute noch wichtig erscheinen. Wir lernten, andere
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