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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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Armee oder einer Kombinatsführung. Die Nachbarn meines Onkels Otto gehörten wie er durchweg dem Ministerium für Staatssicherheit an. Darüber sprach aber niemand offen, schon gar nicht in der Anwesenheit von Kindern, die stets im Verdacht standen, Erlauschtes bei nächster Gelegenheit auszuplaudern. Erst später erfuhr ich auf Umwegen, dass der Bruder meiner Mutter als hoher Stasi-Offizier offenbar direkt dem obersten Ordnungshüter Erich Mielke unterstand.
    Nicht nur Onkel und Tante, sondern auch ihre Nachbarn nahmen uns herzlich und entgegenkommend auf. Wieder machte ich die beglückende Erfahrung, vorbehaltlos willkommen zu sein. Zu Diana, der Tochter der beiden, wiewohl sie acht Jahre älter war als ich, hatte ich auf Anhieb einen guten Draht. Allerdings spürte ich sofort, dass hier eine andere Form von Strenge herrschte. Tante Ingrid, die einen hohen Rang im Post- und Fernmeldewesen der DDR bekleidete, achtete geflissentlich darauf, dass es in ihrem Domizil stilvoll zuging und wir Kinder bei Tisch gesittete Manieren an den Tag legten. Ihr eigenes Erscheinungsbild pflegte sie sorgsam und war stets elegant und modisch gekleidet. Selbst mir als Kind blieb es nicht verborgen, dass sie sich als etwas Besseres betrachtete, gerade gegenüber uns Abkömmlingen aus der thüringischen Provinz.
    Ihren Mann hingegen sah ich während der wenigen Tage unseres Besuchs nur hinter Büchern und Zigarettenqualm. Wie bei Vati waren viele Worte seine Sache nicht, schon gar nicht zu Fragen der Politik, jedenfalls soweit ich das mitbekam. Für meine Mutter war ihr zehn Jahre älterer Bruder das große Vorbild. Der Vater der beiden war im Krieg gefallen. Daher war Otto für seine kleine Schwester in die Rolle eines Ersatzvaters hineingewachsen, der sich für das Mädchen verantwortlich fühlte. Von ihm übernahm sie auch die Vorliebe für alles, was aus Russland kam.
    Otto war das Privileg zugefallen, im Land des großen Bruderstaates studieren zu dürfen, was in der DDR als Ausweis besonderer Bevorzugung und Linientreue galt. Er gehörte jener oft vaterlosen Nachkriegsgeneration an, die in dem neugegründeten, vermeintlich »besseren Deutschland« im Osten von Beginn an ihre Bezugsgröße gefunden hatte. Die Jungen hatten nur wenig, was sie zurücklassen oder vermissen mussten. Sie waren frei, aus den Ruinen aufzuerstehen, und bildeten bald eine neue Funktionselite. Dafür verpflichteten sie sich der herrschenden Staatsdoktrin und der Treue zur dominierenden Partei. Ähnlich wie viele junge Westbürger auf Amerika fixiert waren, so war Stalins propagandistisch geschönte Sowjetunion das Mekka für die Nachwuchsfunktionäre, zumal wenn sich dort ihre Kaderschmiede befand. Im mächtigen Bruderstaat schien für sie die Gesellschaft noch ein wenig machtvoller, technisierter und ideologisch weiter entwickelt als in der DDR .
    Meine Mutti eiferte in vielerlei Hinsicht dem Vorbild ihres großen Bruders nach. Sie hatte in Jena Sport und Russisch auf Lehramt studiert, sie liebte die russische Sprache, die Musik und Kultur des östlichen Riesenreichs und übernahm von ihm die sozialistische Prägung. Auch mir war somit eine Karriere in den Bahnen unserer Republik vorgezeichnet. Hätte ich diesen Leitbildern gemäß ebenfalls einen systemkonformen Lebensweg eingeschlagen? Manches spricht dafür – doch dann sollte vieles ganz anders kommen.

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    11 .
    M ein erster Schultag am 1 . September 1974 erfüllte mich auf doppelte Weise mit Stolz. Endlich war ich aus dem Kindergarten- und Vorschulalter herausgewachsen, das ich in den letzten Augustwochen nur noch mit größter Ungeduld ertragen hatte. Jetzt war ich ein Schulkind wie Mirko, den ich seit seinem Besuch bei uns nicht wiedergesehen hatte. Von jetzt an durfte ich täglich jenen Ort aufsuchen, der auch der Arbeitsplatz meiner Mutti war. Schon früher hatte sie mich manchmal mit in den Unterricht genommen, wenn es keine andere Betreuungsmöglichkeit für mich gab. Ich hatte dann mucksmäuschenstill in der Klasse gesessen und insgeheim bewundert, wie souverän sie im Mittelpunkt des Geschehens stand. Von nun an war ich sogar täglich mit ihr in ihrem Reich.
    Auf meinem ersten Gang zu unserer 8 . Polytechnischen Oberschule Bruno Kühn begleiteten mich meine Eltern beide. Ich hatte meinen nagelneuen Schulranzen aus rotem Kunstleder auf dem Rücken, und mein Vati trug unter dem Arm ein Bündel, das in ein Bettlaken eingehüllt war. Natürlich wusste ich, was sich darunter verbarg. Als

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