Entrissen
Menschen, Ältere, auch Benachteiligte, zu respektieren, sie zu besuchen und ihnen behilflich zu sein. Unsere eigenen Ansprüche, so lautete das Lernziel, sollten wir gegenüber denen der Gemeinschaft zurückschrauben. Zweifellos missbraucht jede Diktatur – und die SED bekannte sich ausdrücklich zu dieser Bezeichnung – Ideale für ihre Zwecke. Kinder mit gutem Willen sind ganz besonders anfällig für Manipulationen. Doch vieles von dem, was die Erzieher uns damals vermittelten, unterschied sich nicht grundlegend von den Wertmaßstäben eines Pfadfinderfähnleins.
Am 13 . Dezember 1974 , dem alljährlich zelebrierten Pioniergeburtstag, wurden wir dann formell in die Nachwuchsorganisation der Partei aufgenommen. Offiziell war die Mitgliedschaft freiwillig. Bei mir zu Hause stand die Zugehörigkeit zu den Jungpionieren sowieso außer Frage, vergleichbar mit der Erstkommunion für gläubige Katholiken. Ich kann mich aber auch keines Mitschülers aus den ersten vier Klassen entsinnen, der in unseren Pionierreihen gefehlt hätte. In der Praxis gehörte jeder automatisch dazu, sofern dessen Eltern nicht aktiv gegen eine Mitgliedschaft vorgingen, was wiederum mehr oder weniger tiefgreifende Nachteile einbringen konnte. Außerdem wollte sich natürlich kein Kind ausgeschlossen fühlen. Am wenigsten ich.
Unendlich stolz war ich, als mir nach den üblichen Ansprachen und Appellen einer der etwas älteren Thälmann-Pioniere das neue blaue Halstuch umband, vielleicht mehr noch als meine Klassenkameraden: Ich fühlte mich gleichrangig, der Gemeinschaft zugehörig. Mein Außenseiterdasein war damit beendet. Der Makel, das Kind einer Staatsverräterin zu sein, war vergessen. In unserem Pionierausweis, den ich überglücklich in der Hand hielt, waren die Jungpioniergebote aufgelistet, die vom Patriotismus über die Freundschaft zu den Kindern der Sowjetunion bis zur Freude am Sport reichten. Die Liebe zu unserer Republik hatte in der Rangliste sogar Vorrang vor den eigenen Eltern. Wir Sechs- und Siebenjährigen beteten die Gelöbnissprüche herunter, ohne ihren vollen Gehalt zu erfassen. »Lobenswert ist ihre Aktivität in der Pionierarbeit«, bescheinigte mir meine Klassenlehrerin immerhin im ersten Halbjahreszeugnis.
Zu dem obligatorischen blauen Halstuch mussten unsere Eltern uns noch die weiße Pionierbluse spendieren, die wir jeden Mittwoch zum Pioniernachmittag anzogen. An Gelegenheiten, die Bluse und das blaue Käppi zu tragen, mangelte es nicht. Brav standen wir in unserer Einheitskleidung zum Schulbeginn, zur Zeugnisausgabe oder zu feierlichen Appellen Spalier. Zum Geburtstag der Republik am 7 . Oktober sowie zur Feier des 1 . Mai zogen wir winkend und Fähnchen schwenkend durch die breite Reichsstraße in Gera. Mir war die Menschenmenge nicht geheuer. Zu meiner Beruhigung durfte ich beim ersten Umzug auf den Schultern des Vaters thronen. Später vermittelte mir die Tatsache, dass meine Mutter als Lehrerin in unserem Schulblock mitmarschierte, ein Gefühl von Sicherheit.
Auch wenn ich meine Mutti auf dem Schulhof sah, wo sie gelegentlich die Pausenaufsicht führte, freute ich mich und verspürte sogar ein wenig Stolz. Aus sicherem Abstand beobachtete ich, wie sie von den meisten Schülern respektiert, von manchen umgarnt, von anderen aber gemieden wurde. »Die ist doof«, lästerten einige missmutige Klassenkameraden hinter vorgehaltener Hand, »sie nervt und meckert ständig herum.« Viel gab ich darauf nicht, denn sicher hatte meine Mutti ihre Gründe dafür, wenn sie als Lehrerin Schüler tadelte.
Einen
Eindruck konnte ich aus eigener Anschauung teilen: So verbindlich sich meine Mutti nach außen gab, diskutieren ließ sich mit ihr nicht. Rigoros verfocht sie ihren, den »richtigen« Standpunkt, und wer sich ihre Ansicht nicht zu eigen machen wollte, der galt bei ihr als uneinsichtig und hatte das Nachsehen. Keine Debatte! Sozialistisch konfirmierten Schülern kam solcher Dogmatismus entgegen. Eigenwillige Eigenbrötler hatten jedoch bei ihr keinen leichten Stand. Wann immer ich selbständig Vorstellungen entwickelte, die sich nicht in ihr Weltbild fügten, behielt ich diese für mich. Es erschien mir aussichtslos, meine neue Mutter mit abweichenden Meinungen überhaupt zu erreichen. Einigkeit ließ sich mit ihr am besten dann herstellen, wenn ich mich fügte. Eine dauerhafte Herzensverbindung vermochte ich dagegen nie mit ihr zu knüpfen.
[home]
12 .
A uch zu Hause waren Pioniertugenden gefragt. Bevor
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