Entrissen
Kommentar zur Folge hatte: »Im zweiten Halbjahr ließ ihre Aufmerksamkeit nach. Katrin muss sich gleichmäßiger anstrengen und konsequenter arbeiten.«
Nach der Rückkehr meines Vaters verlor in bewährter Doppelmoral niemand auch nur eine Silbe über den Vorfall. Für mich jedenfalls war die Welt wieder in Ordnung. Wenn mir die häusliche Plackerei auch manchmal über den Kopf wuchs, konnte ich mir stets sagen: immer noch besser als im Kinderheim. In der Bilanz gehörten meine ersten drei Jahre gleichsam als Kronprinzessin der Familie zu den glücklichsten in meinem Leben. Bis meine Mutti schwanger wurde.
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13 .
I m Jahr 1977 sollte der sehnlichste Wunsch meiner Adoptiveltern doch noch in Erfüllung gehen. So lange Zeit hatten sie auf ein eigenes Kind warten müssen, dass sie wohl selbst nicht mehr daran glaubten. Nun war Mutti guter Hoffnung, einem Stammhalter das Leben zu schenken. Ich bemerkte damals nichts von ihrer Schwangerschaft, eigentlich wusste ich noch gar nicht so recht, was das war. Ich hatte keine Ahnung, wie Kinder auf die Welt kamen. Aufklärung war für Mutti offensichtlich eine eher peinliche Angelegenheit. Brachte ich arglos ein Thema zur Sprache, das sich als heikel erwies, so gab sie mir sofort zu verstehen, dass »man« darüber nicht redete. Und daran hielt ich mich.
Nur ihren strengen Regeln entwich ich immer häufiger mit klammheimlicher Freude. Ich hatte stets pünktlich zu Hause zu sein. Als Trotzreaktion ließ ich mir daher unterwegs immer viel Zeit und trödelte, vor allem wenn daheim Arbeit auf mich wartete. Eines Abends im Frühjahr 1977 ging es schon auf halb sieben Uhr zu, als ich mich vom Spielplatz auf den Heimweg machte. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte Mutti mich nicht um 18 . 00 Uhr schimpfend nach Hause beordert. Vorsichtshalber drehte ich die Zeiger meiner Armbanduhr zurück und legte mir eine Ausrede zurecht.
Aber ich bekam gar keine Gelegenheit, sie vorzutragen. Als ich nach Hause kam, war die Tür verschlossen. Dabei brannte drinnen Licht. Ich klingelte, doch niemand öffnete. Also ging ich ums Haus. Der Kellereingang, die Tür zum Dachboden, die Fenster: alles war verschlossen und verrammelt. Ich war ausgesperrt. Angst kroch in mir hoch, und ich klingelte Sturm, aber nichts tat sich. Ich wusste genau, dass meine Mutti meine Ankunft längst bemerkt haben musste. Doch jetzt ließ sie mich so richtig auflaufen. Na schön, ich war unpünktlich, hatte die heilige Hausordnung missachtet. Bloß, war das ein Grund, mich gleich auszusperren? Mutti konnte manchmal so herzlos wie eine Stiefmutter aus dem Märchenbuch sein.
Ich läutete noch mal. Auf einmal befiel mich die blanke Panik. Die wollen mich nicht mehr!, schoss es mir durch den Kopf. Soll ich jetzt auf der Straße schlafen? Wo bekomme ich noch was zu essen? Ich brach in Tränen aus und überlegte krampfhaft, ob es nicht doch irgendeinen Zugang ins Haus gebe. Es war aussichtslos. Ich weinte und bat flehentlich: »Lasst mich rein!« Ich sah schon vor mir, wie ich wieder ins Heim abgeschoben wurde. »Es soll auch nie wieder vorkommen!«, beteuerte ich unter Tränen. Alle erdenklichen Versprechungen gab ich ab, das konnten meine Eltern nicht überhören. Aber es blieb fruchtlos. Meine Hilflosigkeit verwandelte sich mehr und mehr in Wut, und ich trat mit dem Fuß gegen die Tür. Immer wieder.
Sonst war ich eher in mich gekehrt, jetzt dagegen packte mich eine tiefe Verzweiflung. Beinahe eine halbe Stunde lang trommelte ich wie besessen gegen das Portal, bis mir die Kraft ausging. Kein Zweifel: Ich war in meinem Elternhaus nicht mehr willkommen. Nach manch anderen Enttäuschungen war das ein echter Tiefschlag für mich. In diesem Augenblick ging etwas in mir zu Bruch, was sich später nie mehr richtig zusammenfügen ließ. Für meine Eltern war ich all die Jahre eine Fremde geblieben. Das war für mich die Botschaft dieses Abends.
In meiner hilflosen Wut brüllte ich: »Wenn ihr mich nicht wollt, dann geh ich eben!« Heulend wandte ich mich ab, um Zuflucht bei meiner Tante fünf Häuser weiter zu suchen. Als ich das Gartentor erreichte und meine Aussperrung somit öffentlich zu werden drohte, öffnete sich wie von Geisterhand die Haustür.
Aufgelöst und gedemütigt schlich ich hinein.
Drinnen empfing meine Mutter mich mit der Frage: »Meinst du deine Versprechungen, so wie du sie gesagt hast, denn ernst?«
Vati saß schon wartend am Abendbrottisch und hielt sich erkennbar heraus. Für Erziehungsfragen fühlte
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