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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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hochstieg oder mir Tränen in die Augen schossen, rannte ich hoch in mein Zimmer, wo man mich in Ruhe ließ oder Oma Erna mir einen Kakao aufbrühte. Hauptsache, der Hausfrieden blieb gewahrt.
    Die für mich unangenehmste Tätigkeit war dem Sonntagnachmittag vorbehalten. Gleich nach dem Kaffee wurden sämtliche Schuhe des Haushalts, die unter der Woche zum Einsatz gekommen waren, auf der niedrigen Seitenmauer unserer Hofeinfahrt entlang der Sichtschutzwand aus Fertigbetonelementen aufgereiht. Jedes Exemplar musste mit penibler Sorgfalt von Straßenstaub und Schmutz befreit, abgebürstet, eingerieben, blankgeschrubbt und nachgewienert werden, bis sich die Sonne im Lack spiegelte.
    Solange wir diese Aufgabe im Team meisterten, konnte ich ihr noch ein gewisses Vergnügen abgewinnen. Im Laufe der Zeit verabschiedete Mutti sich jedoch immer öfter mit dem Verweis auf die vielen Hefte, die sie noch zu korrigieren hatte, und ich stand allein vor der Schuhparade. Nicht dass ich die Putzarbeit gescheut hätte, aber ich verrichtete sie vor aller Augen. Während die Nachbarskinder auf der Straße Gummitwist, Federball oder »Fischer, wie tief ist das Wasser?« spielten, war ich als das leibhaftige Hausmütterchen ausgestellt. Auch meine Spielgefährten blieben keineswegs von Hausarbeiten verschont, aber eben nicht am Sonntagnachmittag. Da trafen sie sich zum Spielen. Nur ich nicht. Sofort kam es wieder hoch, wie ein schmerzhafter Gruß aus der Vergangenheit: das Gefühl, nicht dazuzugehören.
    Während ich das Leder mit dem Lappen bearbeitete, hielt ich Ausschau, wer so alles unsere Straße entlangflanierte. Irgendwo in meinem Innenleben glühte die schwelende Hoffnung immer wieder auf, dass meine richtige Mama eines Tages vor unserer Tür stehen könnte, um mich zu sich zu holen. Sie konnte mich doch nicht bis in alle Ewigkeit bestrafen! Irgendwann würde sie sich ganz bestimmt auf die Suche nach ihren Kindern machen! Mit solchen Gedanken ging mir die Hausarbeit leichter von der Hand. Aber erst, wenn der letzte Schuh in neuem Glanz erstrahlte, war es mir erlaubt, mich am Völkerballspiel der Nachbarskinder zu beteiligen – falls sie nicht schon heimgegangen waren.
    Die Rollen meiner Eltern mir gegenüber schienen klar verteilt. Meine Erziehung war weitgehend Sache der Hausfrau. Meine Mutti gab vor, was ich zu tun und zu lassen hatte, und mein Vati nickte dazu. Wenn ich mich im Zweifelsfall bei ihm rückversicherte, kam stets die Frage: »Und was sagt Mutti dazu?« Das war ganz gewiss nicht das, was ich hören wollte, sonst hätte ich ihn nicht gefragt. Natürlich hatte sie mein Anliegen zuvor schon abgelehnt. »Na siehste!«, kommentierte Vati nur knapp. Dennoch war ich mir im Streitfall oft des unausgesprochenen Beistands meines Vaters sicher, fast unmerklich signalisiert durch ein kleines Nicken oder demonstratives Wegschauen während einer mütterlichen Gardinenpredigt.
    Umso schwerer traf es mich, wenn ich seine Hand einmal direkt zu spüren bekam. Einmal hatte ich beim Toben im Hof während eines Gartenfestes den Grill umgeworfen. Reflexartig gab Vati mir eine Ohrfeige. Er bereute den Schlag zwar gleich wieder, und irgendwie sah ich es auch selbst ein, einen Fehler begangen zu haben. Dennoch tat der unerwartete Schlag mir auch in der Seele weh.
    Unter der Oberfläche des Familienfriedens war ich durchaus nicht so folgsam, wie es den Anschein hatte. Mein Aufbegehren verlagerte sich einfach in die Verborgenheit. Die strengen Vorschriften unterlief ich, sobald ich mich unbeobachtet glaubte – und das durchaus mit Lustgewinn. Wenn ich etwa zur Verkaufsstelle der Konsumgenossenschaft geschickt wurde, weil die Küchenvorräte ausgegangen waren, gönnte ich mir gelegentlich, was zu Hause verboten war: Süßigkeiten wie die Zetti-Schokolode, in deren Hülle Pappfiguren aus der
Sandmann
-Sendung wie Herr Fuchs, Frau Elster, Schnatterinchen oder Pittiplatsch steckten. Die Schokolade verzehrte ich auf dem Heimweg, die Pappbilder versteckte ich, und das fehlende Wechselgeld erklärte ich damit, dass der Kaufmann sich verrechnet oder ich das Geld unterwegs verloren hatte. Diese Ausreden waren natürlich allzu durchsichtig. Mutti beschimpfte mich mehr als einmal als Diebin und verkürzte zur Strafe meine
Flimmerstunde.
Damit traf sie meinen wunden Punkt, denn das Verbot tat weh. Zugleich hatte ich jedoch auch Klarheit. Ich wollte damals meine Grenzen ausloten. Da wir über den Umgang mit Verhaltensregeln grundsätzlich nicht

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