Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
Vom Netzwerk:
er sich wie üblich nicht zuständig.
    Meine Wut war verflogen, mir war jetzt alles egal. Ich entschuldigte mich aufrichtig. »Es kommt nie wieder vor, ich versprech’s euch«, schluchzte ich.
    Daraufhin beendete Mutti mit einem belehrenden Tadel die Angelegenheit. »Du weißt doch, dass man seine Versprechungen einhalten muss.« Das war alles. Keine Umarmung, keine Bestrafung, keine Vergebung. Das Thema war mit dem Lehrspruch abgehakt.
    So gut wie nie schlug Mutti mich, sie strafte mich vielmehr durch konsequentes Ignorieren. Tagelang konnte sie durch mich hindurchsehen, als ob ich aus Luft bestünde. Diese Reaktion war für mich die schlimmste nur denkbare Strafe.
    Oma Erna versuchte mich an jenem Abend wieder aufzurichten, als sie mir ein wenig beim Abwasch half. »Nimm’s nicht so schwer«, sagte sie. »Deine Mutti meint es nicht böse. Frag sie doch, ob du ihr noch etwas helfen kannst, dann ist sie wieder lieb zu dir.«
    Nachdem ich mein Pensum erledigt hatte, hakte ich bei Mutti eigens nach, ob es noch etwas zu tun gebe. Höflich tauschten wir die Grüße für eine gute Nacht. Alles wirkte so, als wäre nichts vorgefallen. Meine Mutti hatte durch die Aussperrung ihr Ziel erreicht. Ich hielt von nun an, so gut es ging, die Vorschriften ein und vermied es, Ausflüchte zu erfinden oder zu lügen. Sie hatte nun eine Tochter, die aufs Wort parierte. Aber meine kindliche Zuneigung hatte sie verloren.
    Umso mehr suchte ich die Verbindung zu meinem Vater. Es war kein Kontakt der vielen Worte, dafür fanden wir in praktischen Fragen zusammen. Wenn es darum ging, im Winter Schnee zu schippen, im Sommer das Unkraut aus den Fugen im Gartenweg zu kratzen oder im Herbst Laub zusammenzurechen, dann überließ Mutti uns bereitwillig das Feld. Vati brachte mir Tischtennis bei und sogar Zielschießen mit dem Luftgewehr. Er unterrichtete mich mit Engelsgeduld in den wichtigsten handwerklichen Grundkenntnissen. Mit ihm zusammen durfte ich unser Heim renovieren, Tapeten von den Wänden reißen, Zimmer neu streichen, Nägel einschlagen oder Holz zersägen. Ich war stolz, von ihm Fertigkeiten zu lernen, die Mutti ausdrücklich scheute. Ich beherrschte etwas, das sie nicht konnte. Und erntete dafür sogar Lob.
    Selbst Vati verspürte unverkennbar das Bedürfnis, gelegentlich dem strengen Regiment seiner Frau zu entfliehen. Am liebsten unternahm ich mit ihm zusammen kleine Streifzüge durch das angrenzende Waldgebiet, neuerdings begleitet von der braungescheckten Miezekatze Minka, die zufällig zur Familie gestoßen war. Hin und wieder nahm Vati mich auch mit zu seinem Vater im nahe gelegenen Bad Köstritz. Opa Heinz bewirtschaftete neben seiner Arbeit in der Brauerei weiterhin seinen kleinen Bauernhof. Die Apfel- und Kirschbäume auf dem Gelände waren mein Klettergerüst. Zwischen all den Schäfchen, Hühnern und Kaninchen konnte ich mich als Kind fühlen, und niemand hinderte mich daran.
    Auf dem Hof war Arbeit für mich etwas, was richtig Spaß machte. Zusammen mit Steffi und Lucie, den beiden Enkelkindern von Opas neuer Frau, kletterte ich auf die knorrigen Bäume, um Äpfel, Birnen oder Kirschen zu pflücken. Wir tobten durch den Heustadel – woraufhin ich prompt Heuschnupfen bekam –, oder wir buddelten Runkelrüben aus dem Acker. Schäferhündin Freya sprang mit hängender Zunge um uns herum, während hinter dem Feld ein Meer von Blumen wogte. Ich sammelte die schönsten in allen Farben zu einem bunten Strauß für meine Oma. Er wurde so groß, dass nur ein Eimer ihn fassen konnte. Ermattet von der Erntetätigkeit, ließ ich mich ins kniehohe Gras sinken und starrte einfach nur in den Himmel. Ich malte mir Phantasiebilder aus, die die Schäfchenwolken auf die blaue Leinwand über mir zeichneten. Es waren Momente ohne Zeit und Raum. Für mich beschreiben sie das Glück der Kindheit.
    Auf der Koppel hinter dem Haus graste Marco, das betagte, auf einem Auge blinde Pony. Nur die Gutmütigkeit meines Opas hatte Marco vor dem Schlachthof bewahrt. Der geduldige Gaul zog uns auf einem umfunktionierten Leiterwagen von der Plantage zurück ins Haus. Auf dem Heimweg von unseren kleinen Landpartien hielt Papa gern mit einem schelmischen Seitenblick zu mir vor der Mitropa-Gaststätte am Köstritzer Bahnhof. Dort gab es den zweifellos leckersten Hackepeter der Region, auf frischem Bäckerbrot. Wir verzehrten ihn mit der verschwörerischen Lust am Geheimnis. Denn mit dieser Köstlichkeit konnte das Abendbrot meiner Mutti nicht

Weitere Kostenlose Bücher