Entrissen
sprachen, erfuhr ich vorwiegend über die Strafe, wann ich zu weit gegangen war. Die Angelegenheit war damit allerdings für gewöhnlich auch erledigt.
Nur einmal nicht. Während des Sommerzeltlagers für Kinder, das alljährlich vom Betrieb meines Vaters angeboten wurde, »wechselten« die Skatkarten eines Jungen in meinen Besitz. Spielkarten bekam ich zu Hause von meinen Eltern nicht, daher war die Versuchung besonders groß. Als sie mich am letzten Tag abholten, fiel der Diebstahl auf und der Verdacht bald auf mich.
»Ich hab die Karten nicht geklaut«, beteuerte ich treuherzig – bis das Päckchen in meiner Reisetasche zum Vorschein kam. Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken. Ich kam mir vor wie eine Schwerverbrecherin und hatte große Angst davor, meinen Ersatzeltern wieder entzogen zu werden.
Doch sie beließen es bei der Ermahnung: »Du darfst uns nie wieder anlügen! Hörst du?«
Merkwürdig: Wenn ich wirklich mal etwas angestellt hatte, blieben meine Eltern seltsam unbeteiligt. Ich schloss daraus, dass ich eben doch nicht ihr »richtiges« Kind war. Für mich war die Konsequenz daher nicht, künftig ein tugendhaftes Leben zu führen, sondern eben möglichst nicht aufzufallen.
Mein diskretes Doppelleben passte allerdings durchaus zu den Usancen meiner neuen Familie. Ich erinnere mich noch gut daran, dass Mutti mir zum Jahresende 1974 ein kleines Püppchen als Geschenk von Vati mitbrachte. Sie hatte ihn in Berlin besucht, wohin er von seinem Kombinat entsandt worden war. In der Hauptstadt der DDR war er als Maurer am Bau ausländischer Botschaftsgebäude beteiligt. Seit unter Erich Honecker die DDR in den siebziger Jahren als neuer UNO -Mitgliedsstaat internationale Anerkennung erntete, gab es im Regierungsviertel einen größeren Bedarf an Repräsentativbauten für diplomatische Vertretungen.
Auch wenn Auswärtseinsätze für Vati nichts Ungewöhnliches waren, vermisste ich ihn jedes Mal. Mit der Puppe, seinem Geschenk, im Arm fühlte ich mich zumindest etwas getröstet. Als er dann aber zu Weihnachten immer noch nicht daheim war und Mutti mir an seiner statt das von ihm hergerichtete Puppenstübchen überreichte, brach ich in Tränen aus. Wo blieb Vati denn nur? »Er muss halt etwas länger arbeiten«, hieß es, als ich nachfragte. »Er kommt schon wieder.« Mutti war um Ausreden nicht verlegen. Aber was sie beteuerte, kam mir nur zu bekannt vor. Ging das etwa schon wieder los, mit den Ausreden, den Lügen, der Hinhaltetaktik? Blieb jetzt auch der erste richtige Vater meines Lebens verschwunden? Immer wieder wurde ich vertröstet, doch Vati kehrte nicht heim.
Als dann im Frühjahr 1975 auch noch Onkel Karl, der mir den Vater ein wenig ersetzt hatte, an einem Blinddarmdurchbruch starb, war meine Welt erneut aus den Fugen. Wieder war jemand einfach weg, von einem Tag auf den anderen. Ich konnte das nicht begreifen. Was Tod bedeutete, wusste ich damals noch nicht. »Wo ist Vati?«, fragte ich Woche um Woche, Monat um Monat. Die Erklärungsversuche der Erwachsenen trösteten mich nicht.
Was damals tatsächlich vorgefallen war, weiß ich erst, seit ich einige Jahre später im elterlichen Tresor Unterlagen aus dieser Zeit entdeckte. Vati wurde zum Jahresende 1974 keineswegs durch Bauarbeiten von uns ferngehalten, er saß vielmehr in Berlin in Untersuchungshaft. Zusammen mit einem Arbeitskollegen wurde ihm Diebstahl sozialistischen Eigentums vorgeworfen. Mit anderen Worten: Der gelernte Industriemaurer hatte offenbar auf seiner Baustelle Werkstoffe abgezweigt und mit den entwendeten Materialien nebenher unter der Hand ein Bauvorhaben realisiert. Diese Art von Schattenarbeit war durchaus üblich in der realsozialistischen Mangelwirtschaft, aber mein Vater war eben aufgeflogen oder verpfiffen worden. Dass seine Auftraggeber aus der privilegierten Funktionärsschicht kamen, lässt sich aus dem Umstand schließen, dass er im Gerichtsprozess mit einer Geld- und einer Bewährungsstrafe davonkam.
Diese Ereignisse waren auch für mein Schicksal von Bedeutung. Denn meine künftigen Adoptiveltern befanden sich zum Zeitpunkt von Vatis Inhaftierung noch in der Probezeit. Hätte mein Vati seine Strafe im Zuchthaus absitzen müssen, wäre er als Adoptivvater wohl kaum tragbar gewesen.
Außerdem gibt es in meinem damaligen Zeugnis einen Hinweis, wie sehr mich Vatis Fernbleiben belastet hat. In beinahe allen Fächern sackte ich in der Zeit seiner Abwesenheit auf die Note Zwei ab, was den vielsagenden
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