Entrissen
Stiege wieder hinunter. Vor der Außentreppe zum Garten war eine kleine Marmortischplatte in die Hauswand gemauert. Dort ließ ich mich nieder, um unbemerkt dem Gespräch der beiden Frauen zu lauschen. Darin ging es nur um die Klinik, Krankengeschichten und Erwachsenenkram, von dem ich nichts verstand. Von mir oder meinem neuen Brüderchen war nicht einmal die Rede.
Nachdem Muttis Besuch gegangen war, kam sie über den Hof auf mich zu. Trotzig saß ich mit verschränkten Armen am Marmortisch und bemühte mich, besonders finster dreinzublicken.
Erst jetzt fragte sie mich, mit leichtem Vorwurf in der Stimme: »Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?«
Beleidigt sprang ich auf und lief zum Haus. »Doch«, brach es aus mir heraus, »aber du, du willst nichts von mir wissen!« Da erst bemerkte ich, dass ihre Arme voller blauer Flecken waren.
»Du siehst doch«, tadelte sie mich, »dass es mir nicht gutgeht.«
Woher sollte ich das denn wissen? Mit mir hatte sie über ihre Schmerzen ja nicht gesprochen. Dass die Geburt nicht leicht gewesen war und die Infusionen schmerzhafte Stellen auf der Haut hinterlassen hatten, all das erschloss sich mir mit meinen zehn Jahren noch nicht. An ihrer Befindlichkeit ließ Mutti nie jemand anderen Anteil nehmen, mich schon gar nicht. In wichtige Belange wurde ich grundsätzlich nicht einbezogen. Ich hatte auch kein Recht nachzufragen. Immer wenn Besucher da waren, hatte ich den Mund zu halten. Jetzt begann ich ein wenig zu begreifen, warum sie mich vielleicht so abweisend empfangen hatte. Dennoch fühlte ich mich nicht im Unrecht.
[home]
14 .
A ngesichts der Umgewöhnungsschwierigkeiten bei uns zu Hause traf es sich vielleicht ganz gut, dass ich im Juli 1977 erst einmal für drei Wochen ins Sommerferienlager nach Rostock-Lüttenklein fahren durfte. Wir, alles Kinder von Werktätigen der Baubrigade, für die mein Vati arbeitete, waren zusammen in einem elfgeschossigen Hochhaus für Montagearbeiter untergebracht. Gemeinsam unternahmen wir Wanderungen durch die Mecklenburger Heidelandschaft, machten Ausflüge an die Ostsee, veranstalteten Gemeinschaftsspiele und sangen Lieder am Lagerfeuer. In diesem Umfeld machten mir sogar sportliche Wettkämpfe Spaß. Beim Tischtennis und ausgerechnet im Luftgewehrschießen schnitt ich als Beste ab, weil ich beides mit Vati zu Hause geübt hatte.
Dennoch wartete ich die meiste Zeit ungeduldig auf die Abreise. Voller Vorfreude sehnte ich mich nach der ersten Begegnung mit meinem neuen Brüderchen Sören. Ich wusste, dass Sören nach meiner Abreise mit Verspätung nach Hause gekommen war, da er die ersten vier Wochen seines Lebens im Brutkasten der örtlichen Kinderklinik zugebracht hatte. Mit seiner Geburt hatte er es offenbar etwas zu eilig gehabt. Aufregender konnte damals für mich keine Vorstellung sein, als dieses kleine Wesen bestaunen zu dürfen und von jetzt an eine große Schwester zu sein. Während der ganzen langen Rückfahrt von der Ostsee bis nach Thüringen rutschte ich unruhig auf dem Sitz unseres Kleinbusses hin und her.
Vati stand schon in unserem Hauseingang und begrüßte mich herzlich, als ich ankam: »Schön, dass unsere Familie jetzt wieder komplett ist.« Der freundliche Fahrer, der mich daheim ablieferte, war ein alter Freund und Kollege von ihm. Ebenso artig wie ungeduldig wartete ich, bis die Erwachsenen ihren Plausch beendet hatten. Mein Koffer blieb erst einmal in der Hofeinfahrt, bis jedes der Kleidungsstücke gründlich untersucht war, da es im Ferienlager Kakerlaken gegeben hatte. Dann gingen wir endlich ins Haus.
Wieder wurde mein Überschwang bereits im ersten Moment gebremst.
»Dein Brüderchen schläft«, flüsterte meine Mutter, die noch ziemlich mitgenommen aussah, und legte den Zeigefinger an die Lippen.
Nur auf Zehenspitzen durfte ich mich an seine Wiege schleichen, die in der Wohnstube stand. Da lag der niedliche kleine Kerl.
»Du darfst ihn ruhig anfassen. Musst nur vorsichtig sein«, raunte Vati mir zu.
Ich berührte das kleine Wesen ganz sachte. Seine Händchen waren kaum größer als der Daumen des Vaters. Aus der übergroßen Strickmütze ragten nur sein Stupsnäschen und der Schnuller, an dem er nuckelte.
Ich war unsagbar stolz. Jetzt habe ich einen kleinen Bruder bekommen, sagte ich mir, nachdem
sie
mir den großen genommen haben. Spontan musste ich an Mirko denken, und wieder versetzte mir der Gedanke einen kleinen Stich. So lange hatte ich ihn nun schon nicht mehr gesehen, obwohl wir
Weitere Kostenlose Bücher