Entrissen
schien sie zu hegen.
Daher blieb mir verborgen, worum sich diese diskreten Gespräche in unserem Haus drehten. Ich machte mir keine Gedanken, wer jene Besucher waren. Für mich stand in diesen Momenten im Vordergrund, dass ich unerwartet Freigang bekam. Erst bei einem Telefonat mit ihr im Jahr 2009 bestätigte Mutti auf meine Nachfrage hin die Vermutung, dass diese Gäste im Dienst der Staatssicherheit gestanden hatten. Thema der Gespräche seien die Werdegänge ihrer Schüler gewesen, behauptete sie. Wenn etwa ein junger Mann eine militärische Laufbahn anstrebte, erkundigte sich die Staatssicherheit nicht nur bei der Schulleitung, sondern auch bei der Parteisekretärin, was es mit diesem Bewerber auf sich hatte, wie entschieden er im Unterricht den »Klassenstandpunkt« vertrat oder ob er in irgendeiner Weise auffällig geworden war. Bezeichnenderweise vollzogen sich diese Nachforschungen nicht offiziell im Lehrerzimmer, sondern unauffällig, geradezu konspirativ, hinter dem Vorhang der Privatsphäre.
Doch die Folgen der organisierten Ausforschung waren für mich unübersehbar. Durch Muttis berufliche Stellung fand ich mich mehr und mehr in der Rolle der Außenseiterin wieder. War ich anfangs noch stolz darauf, dass sie an meiner Schule eine Autorität darstellte, so verfluchte ich diesen Umstand allmählich. Durfte ich denn nie einfach die Katrin sein? Konnten die anderen mich nicht so annehmen, wie ich war? Musste ausgerechnet jene Verbindung, die ich selbst als einengend empfand, für mich zum Makel werden?
Anschauungsunterricht hierzu bot mir unsere Schuldisco, die in unregelmäßigen Abständen samstagabends stattfand. Im Speisesaal bewegten wir uns zur Musik der Schallplatten, die die Discjockeys, dank einer eigens von den Kulturbehörden erteilten Lizenz, bevorzugt abspielen durften. Wenn sie nämlich die obligatorische Mindestquote von zwei Dritteln Ostmusik einhielten, um die Lizenz nicht zu gefährden, erhielten sie vom staatlichen Jugendverband die Erlaubnis, auch ein paar Songs aus dem nichtsozialistischen Ausland aufzulegen; am besten englischsprachige Titel, zum Beispiel von AC / DC oder Rod Steward, die sowieso niemand verstand. Deutschsprachige Balladen, etwa von Udo Lindenberg, die voller unerwünschter Anspielungen steckten, waren trotz der Quotenregelung verpönt.
Mir ging es an jenen Abenden gar nicht um die Musik. Ich wollte einfach nur dabei sein und von den Jungs zum Tanzen aufgefordert werden. Doch darauf wartete ich meistens vergeblich. Nirgendwo sonst wurde es augenfälliger: Ich führte eine Randexistenz. Außerdem war mir klar: Falls ich jemals engeren Kontakt zu einem Jungen in meinem Alter knüpfen sollte, würde dieser vor den Augen meiner Mutti höchstwahrscheinlich keine Gnade finden. Egal, welchen Freund ich nach Hause mitbringen würde, so fürchtete ich zumindest, sie würde ihn entschieden ablehnen. Kein junger Mann würde gut genug für
ihre
Tochter sein. Wie sollte sie etwas fördern, was mich aus dem Abhängigkeitsverhältnis zu ihr lösen konnte?
Und selbst wenn ich mich über den zu erwartenden Widerstand meiner Mutti hinwegsetzen würde: Welcher Junge würde sich überhaupt auf mich einlassen? Ich hatte ja immer und überall meinen kleinen Bruder im Schlepptau. Hinzu kam, dass ich die Schuldisco grundsätzlich vor allen anderen Klassenkameraden verlassen musste. Immer dann, wenn die beliebtesten Platten aufgelegt wurden, musste ich mich nach dem Willen meiner Eltern nach Hause verabschieden, um pünktlich um 21 . 00 Uhr daheim zu sein. Neidisch dachte ich während des einsamen Heimwegs an meine Gefährten, die später im Pulk, quasselnd, blödelnd und ins Gespräch vertieft, den Abend ausklingen lassen durften.
Einstweilen erschöpften sich meine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht also auf längst zurückliegende Doktorspiele mit dem Nachbarsjungen in dessen Kinderzimmer. Einmal hatte ich als kleines Mädchen halbnackt mit ihm in seinem Bett gekuschelt, da betrat seine Oma das Zimmer. Sie redete kein Wort, gab keinen Kommentar ab, während wir hastig in unsere Klamotten schlüpften, nur Schweigen und Wegsehen. Auch Mutti, Vati und die Nachbarin: Sie alle sagten nichts. Ich folgerte daraus, dass wir etwas angerichtet haben mussten, das unaussprechlich war, etwas geradezu Unsägliches. Verstärkt wurde der Eindruck der Peinlichkeit noch dadurch, dass der Nachbarsjunge seitdem nicht mehr in unser Haus gelassen wurde und ich ihn nur dann besuchen durfte, wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher