Entrissen
deren Berührung fürchtet.
Mutti merkte, dass sie mich an diesem Abend nicht erreichen konnte, und murmelte nur: »Ich lasse dich jetzt in Ruhe. Wir können ja dann morgen über alles reden«, bevor sie das Licht löschte.
Ich zog meine Bettdecke fester um mich und weinte mich in den Schlaf.
[home]
18 .
W ir haben über das Vorgefallene nicht geredet, nicht am folgenden Morgen, nicht in den Tagen danach, nie. Der Gesprächsfaden zwischen meiner Mutter und mir war gerissen. Ich gab es auf, ihr überhaupt noch Fragen zu stellen. Wenn ich ein Echo erhielt, dann klang es falsch, ganz anders als mein Empfinden. Oder verwechselte ich Wunschdenken mit Gefühlen? Ersehnte ich eine Antwort, die der Wirklichkeit widersprach?
Ich sah nur noch eine Ausflucht, die unerträgliche Erstarrung zu lösen: Ich musste dieses Haus und damit diesen Teil meines Lebens verlassen. Bald kreiste mein ganzes Denken nur noch um dieses Ziel: endlich raus hier. Wie eine fixe Idee, die mir beinahe den Verstand raubte.
Sooft es ging, versuchte ich meiner eigenen Wege zu gehen – kleine Fluchten als Kostprobe der für später erhofften Freiheit. Aber auch außerhalb unserer Wohnung hatte ich kein Zuhause. Es war nicht zu leugnen, dass viele Mitschülerinnen mich inzwischen mieden. Ich konnte mir damals keinen rechten Reim darauf machen. Gewiss, ich war keine Stimmungskanone und auch keine umwerfende Unterhaltungskünstlerin, mehr hässliches Entlein als stolzer Schwan. Dass ich nicht mit einem bezaubernden Erscheinungsbild glänzte, dafür sorgte schon meine Mutti. Schicke Kleidung und gestylte Frisuren entsprachen nicht dem mir verordneten Schönheitsideal. So sehr sie sonst Wert darauf legte, mit meinen Vorzügen hausieren zu gehen, schien ihr an meiner äußeren Unscheinbarkeit durchaus gelegen zu sein. Dabei achtete sie bei sich selbst sehr wohl darauf, als Lehrerin immer korrekt gekleidet, elegant und adrett in der Schule aufzutreten.
Doch dies allein konnte nicht der Anlass sein, dass meine Gefährten spürbar einen Bogen um mich machten. Gespräche verstummten, sobald ich näher kam. Wenn eine Neuigkeit die Runde machte, wurde ich oft nicht eingeweiht. Einladungen, Ausflüge oder Kinobesuche fanden in der Regel ohne mich statt, allein wegen meiner Haushaltspflichten. Die einzige Ausnahme bildeten drei Geburtstagsfeten im Jahr. Dennoch verband mich mit keinem Mädchen aus meiner Klasse eine enge Freundschaft, die mir ermöglicht hätte, mein Herz auszuschütten. Was stimmte bloß nicht mit mir?
Damals ahnte ich es nur, heute weiß ich es durch Erzählungen auf unseren Klassentreffen: Es lag an meiner Mutti. Meine Schulkameraden sahen in mir nicht nur die Tochter einer einflussreichen Lehrerin und Parteisekretärin, zu der sie allzu enge Tuchfühlung lieber mieden. Viel deutlicher, als ich das selbst damals erfasste, vermuteten die Erwachsenen, dass meine Mutter einen direkten Draht zur Staatssicherheit hatte, die in der DDR Überwachungsbehörde, Kontrollinstanz und Meinungsforschungsinstitut in einem war. Daher schien den meisten Menschen Vorsicht geboten, und sie gaben diese Bedenken an ihre Kinder weiter. Konnten sie denn wissen, ob ich nicht eine unbedachte Bemerkung, eine zufällige Beobachtung, ein gut gehütetes Geheimnis an meine Mutti und damit an die Aufseher des » VEB Horch und Guck« weitermeldete? Allein der Verdacht einer Indiskretion genügte, mich als Unberührbare zu brandmarken, ohne dass ich offen damit konfrontiert wurde. Hüte dich vor der Kleinen aus dem Haus der Parteisekretärin, lautete offenbar die Devise, man kann ja nie wissen … Ausgerechnet ich, die Tochter einer Staatsverräterin, stand somit unter dem Verdacht, diesem Staat als Denunziantin zu dienen, und sei es auf dem Umweg über meine Mutti.
So unbedarft und gutgläubig ich auch war: Selbst mir blieben einige merkwürdige Vorgänge zu Hause nicht verborgen. Wenn es bei uns klingelte und ich gelegentlich einem Mann in erkennbar gutgeschnittenem Anzug, mit gepflegtem Erscheinungsbild und erlesenen Umgangsformen die Haustür öffnete, wusste auch ich, dass dieser Besucher kein Schülervater oder Zeuge Jehovas war. Mit ausgesuchter Höflichkeit fragte der Mann an der Tür üblicherweise nach meiner Mutter, die mich dafür umgehend aus dem Haus verbannte. »Wenn du siehst, dass unser Gast wieder gegangen ist, kommst du bitte sofort zurück«, hieß es immer. Selbst auf mein Zimmer durfte ich dann nicht, solche Furcht vor ungebetenen Ohrenzeugen
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