Entrissen
die ausdrückliche Erlaubnis dazu erhielt. Ich zog daraus nur eine Schlussfolgerung: dass alles, was zwischen Frauen und Männern vor sich ging, mit einem Tabu belegt ist.
Nur ein kleiner Freiraum, um eigenständig und unbefangen auf Entdeckungstour zu gehen, tat sich für mich noch auf: Es war die Sonntagnachmittagsvorstellung im kleinen Kino an der Einkaufspassage von Gera-Langenberg. An diesem Tag liefen für einen Eintrittspreis von ein paar Groschen fantasievolle Abenteuerfilme wie
Sindbad der Seefahrer
aus den Traumfabriken von Babelsberg bei Berlin oder Barandov bei Prag oder einmal sogar die Edgar-Wallace-Verfilmung
Das Gasthaus an der Themse.
Wenn ich den Putzeimer nach getaner Arbeit in den Schrank gestellt hatte, durfte ich einige Male, ohne Aufsicht und meinen kleinen Bruder, ins Kino gehen. Für mich war dies der Höhepunkt der Woche, den ich voller Vorfreude erwartete. Die Hauptanziehungskraft übte auf mich allerdings das Publikum aus. Genauer gesagt: die Jungs aus dem Jugendwerkhof. In der offiziellen Sichtweise handelte es sich bei diesen Jugendlichen um schwererziehbare, gesellschaftsschädigende Subjekte. Oft hatten sie (ähnlich wie ich) ihre Eltern verloren, in manchen Fällen wurden die Erziehungsberechtigten den Heranwachsenden auch nicht mehr Herr.
In Wirklichkeit aber war das Hauptmanko dieser Jugendlichen, dass sie in irgendeiner Weise auffällig geworden waren, dass sie hervorstachen aus dem uniformen Heer der Werktätigen. In den dreiunddreißig Jugendwerkhöfen der DDR fanden sich Kleinkriminelle, Rowdys und Verwahrloste ebenso wieder wie Aufsässige, Unangepasste, Andersdenkende. Als schwererziehbar galt jeder, der sich der sozialistischen Pädagogik nicht fügte. Und die kannte meist nur ein Konzept: Härte, Strenge, Disziplin. Hinter dem verharmlosenden Begriff »Jugendwerkhof« verbarg sich ein Züchtigungsinstitut, das in vielerlei Hinsicht an ein Internierungslager erinnerte. Den Insassen war ein rigoroses Arbeitspensum auferlegt. Nur am Sonntag hatten auch sie, wenngleich unter Aufsicht, Freigang.
Diese »schwererziehbaren« Jungen fand ich reizvoll, denn sie verbreiteten eine Aura von Rebellentum und Widerspruchsgeist. Es war mein erster Flirt mit einer diffusen Opposition gegen unser Staatswesen, auch wenn ich diese Halbstarken nicht mit politischen Augen betrachtete und die meisten von ihnen für gewöhnlich auch nicht aus politischen Motiven handelten. Ich fühlte mich in ihrer Nähe einfach wohl, auf gewisse Art sogar wesensverwandt. Vielleicht erinnerten sie mich an meine früheren Heimgefährten. Ganz sicher aber fand ich es erleichternd, dass keiner dieser Jungs mich als die Tochter einer parteikonformen Lehrerin wahrnahm. Sie wussten nichts von meiner Mutter, und wenn sie etwas erfahren hätten, wäre es ihnen wohl egal gewesen. Sie ermöglichten mir, mich wenigstens einmal so zu geben, wie ich war. Weder musste ich das artige Hausmütterchen mimen noch befürchten, als Spitzel beargwöhnt zu werden. Sie akzeptierten mich, ohne mich nach meinem Zuhause oder meiner Herkunft auszufragen, und boten mir die seltene Gelegenheit, mich wie eine normale Jugendliche zu fühlen.
Nicht zuletzt waren es einfach Jungs, lässige, unangepasste Typen, die mein pubertierendes Teenagerherz höherschlagen ließen und meine Fantasie belebten. Und dabei sollte es nicht bleiben. Einer der Werkhöfler, Helmut, hatte es mir besonders angetan. Schon bald stand weniger das Filmdrama auf der Leinwand im Vordergrund. Viel spannender war für mich, dass ich neben meinem Verehrer händchenhaltend im Sessel sitzen durfte, dass er beim nächsten Mal seine Hand um meine Schulter legte und dass schließlich, in der Verborgenheit des dunklen Kinosaals, auch unsere Lippen zueinanderfanden. Noch nach der Vorstellung knutschten wir engumschlungen an der Bushaltestelle vor dem Kino. Ich war selig, dass Helmut auch im Freien seine Verbundenheit mit mir bekundete. Endlich hatte meine langgehegte Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeit und Anerkennung ein Ziel. Von dem Tag an freute ich mich die ganze Woche auf den kurzen Nachmittag meines Glücks.
Natürlich konnte das nicht lange gutgehen. Der Moment, da meine Mutter Wind davon bekommen würde, mit wem ich vor dem Kino Umgang pflegte, nahte unweigerlich. Irgendjemand muss uns beobachtet und nichts Eiligeres zu tun gehabt haben, als meine Mutti vor der »schlechten Gesellschaft« zu warnen, in die ich da hineinzugeraten drohte. Immerhin sei der junge Mann in
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