Entrissen
ruft er mir zu.
Ich sehe ihn an. »Ach, Vati, ich will nicht zurück. Ich kann nicht mehr! Meine Kräfte sind aufgebraucht. All das ertrage ich nicht mehr.«
Seine durchschimmernden Hände umfassen meine. »Du musst wieder zurück, deine Zeit ist noch nicht gekommen.«
Ich möchte aber nicht von dem Seelenfrieden lassen.
Vati erinnert mich an meine Kinder, die meine Liebe brauchen. Sie sollen ihre Mutter nicht vermissen, wie ich es zeitlebens getan habe. »Du hast die Wahl: Weitermachen wie bisher, dann sehen wir uns viel zu früh wieder«, sagt er. »Oder du stehst auf und kämpfst endlich mal für deine Belange!«
Der väterliche Hinweis auf die Kinder – ob eingebildet oder nicht – zeigt offenbar Wirkung: Meine Seele scheint in meinen Körper zurückzukehren. Ich finde wieder in meine sterbliche Hülle, die ich in meiner Wahrnehmung schon für einen Hauch von Ewigkeit verlassen habe.
Am Fußende des Krankenbettes sehe ich meinen Adoptivvater aufstehen. »Katrin, die Gefahr ist nun vorüber. Ich kann jetzt wieder gehen.«
Das darf nicht wahr sein!, denke ich. Wieder verlässt er mich, obwohl ich ihn mehr denn je brauche. Tränen rinnen mir über die Wangen. Warum nur bin ich wieder hier unten, in meinem Elend.
»Ich werde immer für dich da sein«, versichert Vati mir zum Abschied. »Du brauchst mich nur zu rufen.« Dann ist er verschwunden.
Als ich vollständig erwacht bin, bemerke ich die Spuren der Stromstöße, die mein kraftloses Herz dazu gezwungen haben, seinen Dienst wieder aufzunehmen. Ein Schrittmacher gibt nun den Takt vor, in dem meine Blutströme pulsieren, und hilft dabei, meine Lebensgeister zu wecken. Es ist meine zweite Geburt.
Die Herzschwäche habe ich von meiner Mutter geerbt. Auch durch dieses Handicap spüre ich eine Verbindung mit ihr, meiner Herzensverwandten. Unsere Leben pochen in vergleichbarem Takt – ein Doppelherz. Ebenso wie bei ihr scheint mein Herz den vielfältigen Belastungen des Lebens nicht gewachsen zu sein. Doch nun, mit dem kleinen technischen Taktgeber, kehrt die Kraft in mich zurück und damit auch mein Lebensmut. Bald stehe ich wieder auf beiden Beinen, erst schwankend, dann mit neuer Festigkeit. So leicht kann mich nun nichts mehr aus der Bahn werfen.
Ich spüre, dass es weniger medizinische Ursachen oder erbliche Vorbelastungen sind, die mein Herz bedrücken. Mir ist sehr wohl bewusst, dass meine innere Zerrissenheit auf Dauer nicht ohne körperliche Folgen bleiben kann, dass die Erlebnisse aus meiner Kindheit immer noch schwer auf meiner Seele lasten. Irgendetwas »stimmt nicht« mit mir. Allerdings spüre ich eine tiefe Angst vor dem Schmerz, vor der Wucht der Gefühle, die ich tief in mir drin vergraben habe. In klaren Momenten habe ich durchaus erkannt, dass diese Hemmnisse mir den Blick zurück verstellen, doch am Kern meiner Probleme will ich nicht rühren. Lange, viel zu lange, habe ich den Blick auf die kleine, leidende Katrin in mir gescheut. Ich wollte nichts mehr von ihr wissen. Ich mochte sie nicht, weil sie mir so verletzlich und zerbrechlich vorkam. Aber was ich mit Gewalt seit Jahren verdränge, belastet mich umso mehr. Ich komme mir wie gelähmt vor, drehe mich immer mehr im Kreis.
Erst als ich durch die Herzschwäche in das schwärzeste Loch geraten bin, öffnet sich jetzt für mich die richtige Tür. »Katrin, du musst zurück!«, ist zugleich der Ruf nach dem kleinen Mädchen, das ich einmal war, in einem fernen Leben.
Nach der Wiederbelebung fühle ich mich stark genug, endlich mein Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Ich bin bereit zur Auseinandersetzung mit mir selbst und den Ursachen, die meiner Misere vorausgegangen sind.
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19 .
I m Jahr 1982 nahte auch für mich der Tag, der offiziell als Höhepunkt im Leben eines heranwachsenden DDR -Bürgers galt. Viele meiner Freunde empfanden das ebenso. Die Jugendweihe erfüllte eine ähnliche Funktion wie die Konfirmation in der protestantischen oder die Firmung in der katholischen Kirche: Durch ein öffentliches Ritual bekundet, wurden heranwachsende Jugendliche im Alter von vierzehn Jahren zu annähernd vollwertigen Angehörigen der Erwachsenenwelt. Ein Initiationsritus, wie ihn alle Kulturen der Welt kennen. Auch die sozialistischen Länder benötigten Zeremonien, um die durch den staatlichen Atheismus entstandenen Lücken zu füllen. Uns Mädchen versprach diese Aufnahmefeier die öffentliche Aufführung des Märchens von der Verwandlung des hässlichen Entleins in
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