Entrissen
den Jugendwerkhof als Strafe für seine Aufmüpfigkeit und diverse Prügeleien auf dem Schulhof verbannt worden.
Als mein nächster Kinobesuch anstand, erklärt Mutti mir lapidar und in eher fürsorglichem als strengem Ton: »Du gehst da bitte nicht mehr hin! Das ist dort nicht der richtige Umgang für dich. Wir möchten das nicht! Ist das klar?«
Nach dem ersten Schock versuchte ich es mit inständigem Bitten. »Ich mach auch bestimmt nichts, was euch nicht recht ist! Das ist doch für mich das einzige Mal, dass ich hier rauskomme, dass ich mal was für mich tun kann. Die anderen Mädchen in meinem Alter dürfen das alles schon längst!«
Es war vergeblich. In solchen Situationen gab es keine Gespräche, Erklärungen, Argumente. Es wurde verfügt, und ich hatte mich zu fügen.
Konsequent und prinzipientreu nannte Mutti das. Gnadenlos und unerbittlich, würde ich heute sagen. Und ich sagte es meinen Eltern schon damals deutlich. »Eure Sturheit kotzt mich an«, schrie ich ihnen verbittert und wütend ins Gesicht. »Immer muss ich arbeiten. Ich mach doch schon alles, was ihr mir auftragt. Aber wenn
mir
mal was wichtig ist, dann wird es einfach verboten, mit irgendwelchen Ausreden. Das ist doch scheiße.« Das war der Moment, in dem die flache Hand meines Vaters schmerzhaft und mit voller Wucht auf meine Wange klatschte. Autsch! Ich empfand die Bestrafung als extrem ungerecht und maßlos überzogen. Ja, ich hatte mich im Ton vergriffen. Aber hatte ich dazu nicht allen Anlass? War mein Wutausbruch nicht quasi eine Art Notwehr?
Vati schien nachträglich nicht einmal Bedauern oder Reue zu empfinden. Er entschuldigte sich jedenfalls nicht, was auch mein Verhältnis zu ihm empfindlich anknackste. Schließlich war er der Ansicht, dass es mir nicht zustand, diesen Ton gegenüber meiner Mutti anzuschlagen, und wahrscheinlich hatte er sogar recht damit. Letztlich war es meine Hilflosigkeit gegenüber der elterlichen Willkür, der ich Ausdruck zu verleihen suchte. Verbessern konnte ich meine Lage dadurch nicht, im Gegenteil: Mein Freiraum wurde immer enger. Das elterliche Ausgehverbot beendete meine kleinen Sonntagsfluchten. Stattdessen durfte ich Schuhe wienern, gleichgültig, wie sauber sie waren. Meinen Verehrer aus dem Jugendwerkhof sah ich nie wieder.
Die Jungs vor dem Kino, Mirko, Oma Erna, ja, selbst Vati – inzwischen gab es kaum noch jemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Je weniger Ansprache ich fand, desto mehr verlegte ich mich auf innere Monologe mit meiner wahren Mama, die mir nach meiner festen Überzeugung nicht alles verbieten würde. Mein idealisiertes Mutterbild trug ich von klein auf mit mir wie in einem Amulett und holte es immer dann hervor, wenn ich mich besonders ungerecht behandelt fühlte.
Doch jedes Mal verspürte ich dabei auch einen schmerzhaften Stich: Wo mochte sie nur sein? Immer noch im Gefängnis? Warum nur suchte sie nicht nach mir? Wurde ich vielleicht vor ihr versteckt gehalten? Innerlich flehte ich sie an, mich aus meinem Engpass zu befreien.
Berlin, April 1996
Der 15 . April ist der erste Arbeitstag bei meiner neuen Stelle als ambulante Krankenpflegerin in Berlin-Steglitz. Dieser Job ist für mich ein Rettungsanker nach stürmischen Zeiten. Für diesen Neuanfang habe ich meiner Spielsucht abgeschworen, die mich zuvor beinahe willenlos den einarmigen Banditen ausgeliefert hatte. Vorausgegangen sind meine Scheidung im Vorjahr, ein bitterer Rosenkrieg mit meinem Ex-Mann, in der Folge die zeitweilige Trennung meiner Tochter und meines Sohnes voneinander, der Verlust meiner Stelle bei einem ambulanten Pflegedienst im November und immer wieder Herzrhythmusstörungen, die meine innere Unruhe verstärkt haben.
Erst jetzt, da ich den neuen beruflichen Anfang wage, merke ich, wie ausgebrannt und leer ich in Wirklichkeit bin. Immer neue Ausflüchte habe ich gesucht, mich in Arbeit, Depressionen, Abhängigkeiten gestürzt. Doch all meine Sucht- und Fluchtmanöver haben mich lediglich von der Einsicht abgelenkt, dass meinem Leben der Inhalt fehlt. Ich funktioniere nur noch wie eine seelenlose Hülle. Und ausgerechnet jetzt, als ich sie mit neuem Leben zu füllen beginne, schaltet mein innerer Motor auf Stillstand.
Ausgerechnet als ich meinem neuen Arbeitgeber – aufgrund eines Missgeschicks verspätet – gegenüberstehe, falle ich das erste Mal in Ohnmacht. Ich fühle mich wie in einer leeren grauen Bahnhofshalle, in der aus zehn Lautsprechern unterschiedliche, stark hallende
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