Entrissen
einen stolzen Schwan. Selbst unsere Lehrer und Betreuer würden uns künftig mit »Sie« ansprechen, wir rückten also beinahe auf Augenhöhe mit den Respektspersonen in unserem Umfeld.
Dem Festakt voraus ging eine gründliche Vorbereitungszeit. Im Klassenverbund hörten wir Vorträge, die uns mit unserer Republik und der allgegenwärtigen Partei vertraut machen sollten. Außerdem besuchten wir Tanzstunden und erhielten biologischen und politischen Aufklärungsunterricht. Höhepunkt dieser Einführung war ein Projekttag für alle achten Klassen unserer Schule in Buchenwald. Unter den begleitenden Lehrern war auch meine Mutti.
Es ist kaum möglich, sich der schaurigen Faszination dieses Ortes zu entziehen. Nur wenige Kilometer vom schöngeistigen Weimar entfernt, ragt auf dem Ettersberg vor der Stadt, weithin sichtbar, seit 1958 ein monumentales Mahnmal auf, das daran erinnern soll, zu welcher Barbarei das Volk der »Dichter und Denker« imstande war. Über sechzigtausend Verfolgte des Nazi-Regimes, politische Gegner, Juden, Roma und Sinti, mussten im Konzentrationslager Buchenwald unter unbeschreiblichen Qualen ihr Leben lassen.
Wir erfuhren damals allerdings nur die im Sinne der Staatsideologie retuschierte Version. Demnach waren vorwiegend kommunistische Widerstandskämpfer in diesem Lager von den Faschisten drangsaliert worden. Aus deren Martyrium leitete die DDR ein Vermächtnis zur Rechtfertigung des eigenen Herrschaftswesens ab. Der überdimensionale Gedenkturm diente als Staatsdenkmal der Republik, die im geteilten Deutschland von Beginn an den Antifaschismus für sich reklamiert hatte. Dass unter der sowjetischen Herrschaft in Buchenwald unmittelbar nach Kriegsende noch einmal über siebentausend Häftlinge regelrecht zugrunde gingen, davon habe ich erst vor kurzem erfahren. Niemand in meinem Umfeld hatte das Wissen, die politische Reife oder gar den Mut, unser Staatssystem auch nur ansatzweise in Frage zu stellen oder gar Mechanismen der deutschen Diktaturen im zwanzigsten Jahrhundert zu vergleichen.
Selbstverständlich verbietet sich für mich bis heute jede Relativierung des Jahrhundertverbrechens der Nazis, zu dessen Tatorten auch Buchenwald gehört, mit dem Verweis auf die menschenverachtende Willkür des »real existierenden Sozialismus«. Doch wenn man die Massenaufmärsche oder die Mittel zur Mobilisierung der Jugend betrachtet, ergeben sich mitunter verblüffende Déjà-vus.
Damals, auf dem Ettersberg, war ich weit davon entfernt, einen gedanklichen Bogen zwischen den beiden deutschen Diktaturen zu schlagen. Zum ersten Mal durften wir voller Stolz statt weißer Bluse und rotem Halstuch unsere blauen FDJ -Hemden tragen, die zum Ausdruck brachten, dass wir jetzt zu den ganz Großen gehörten. Wir legten vor dem Denkmal im Kollektiv ein Treuegelöbnis für unsere Republik ab, fühlten uns auf der richtigen Seite im weltweiten »Klassenkampf« und nahmen alles frag- und kritiklos hin, was man uns vorsetzte. Als ich die Frage stellte: »Sind denn die Lageraufseher hier nach dem Krieg bestraft worden?«, erhielt ich von einer Lehrerin zur Antwort: »Die leben heutzutage unbehelligt in der BRD .« Diese Auskunft bestätigte mein Weltbild, nach dem der Westen als Hort des Bösen galt. Schlechte Menschen, die solche Grausamkeiten, wie an diesem Ort dokumentiert, begangen hatten, flößten mir Furcht ein. In manchen Momenten hatte ich das Bild der Männer in ihren schwarzen Mänteln vor Augen, die meine Mama seinerzeit abgeholt hatten.
Die Jugendweihe gehörte fraglos zu jedem ordentlichen DDR -Lebenslauf. Doch von weitaus größerer Bedeutung angesichts des bevorstehenden Ereignisses waren für mich die Vorkehrungen, die mein äußeres Erscheinungsbild betrafen. Meine Adoptivmutter und ich steuerten zu diesem Zweck das örtliche Konsumkaufhaus in der Innenstadt an. Zu meinem Leidwesen behielt sie auch in Garderobefragen das letzte Wort. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was mir möglicherweise gefallen könnte, verfügte sie, welches Kleid ich zur Jugendweihe zu tragen hatte. Was wollte ich tun? Wenn meine Mutti sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, kam niemand dagegen an. Ich schon gar nicht.
Wenn ich mich heute auf dem Foto im Festkostüm betrachte, auf DDR -typisches, leicht blaustichiges ORWO -Fotopapier gebannt, muss ich ehrlich gestehen: Unvorteilhafter hätte sie mich kaum ausstaffieren können. Ein im Stil der Zeit mit Rüschen verziertes blütenweißes Kleid, kombiniert mit
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