Entrissen
Eltern: Alle spielten sie diesen verlogenen Mummenschanz mit. Jeder von ihnen hatte seine Rolle in dieser Aufführung. Gegenseitig täuschten sie sich eine intakte Welt vor, deren Brüchigkeit allenfalls die nächsten Verwandten erkennen konnten. Alle gemeinsam erhielten sie den kollektiven Selbstbetrug aufrecht.
Im Rückblick erscheint mir die gesamte DDR als eine Art Potemkinscher Staat. Wie die Staats- und Parteiführung mit geschönten Bilanzen, gefälschten Wahlergebnissen und erlogenen Parolen sich selbst und die Welt meisterlich über das tatsächliche Desaster hinwegtäuschte, so lebten auch die Menschen um mich herum ein Scheindasein. Alle wollten ja nur zu gern glauben, dass sich die propagierte Leistungsbilanz erfüllte.
Mich erlebten meine Mitmenschen als das, was sie gerne sehen wollten. Kaum jemand hatte eine Vorstellung davon, welcher Groll tief in mir steckte. Selbst meine Mutti wird sich eingeredet haben, dass ich mich im Großen und Ganzen in ihrem Hause wohlfühlte. Mein Gemütszustand war mir nun mal nicht ins Gesicht geschrieben. Meine Gefühle behielt ich für mich. Leider täuschte ich damit auch Menschen, die mir eigentlich über meine innere Trostlosigkeit hätten hinweghelfen können.
Dabei musste ich ständig die Rebellin bändigen, die tief in mir drin wehrhaft und aufmüpfig sein wollte. Es widerstrebte mir im Innersten, all die Zumutungen klaglos zu ertragen. Genährt durch die Erfahrung aus dem Kinderheim, dass man nur dann verliert, wenn man kuscht, und angespornt durch das Beispiel meines Vaters, der auch unbequeme Meinungen vertrat, träumte ich davon, meinen eigenen Standpunkt irgendwann einmal entschieden zu verfechten. Zu Hause allerdings klappte das nicht. Jede Auflehnung, jeder Hilferuf, jeder Ausbruchsversuch, den ich einmal unternommen hatte, all das hatte im Ergebnis meinen persönlichen Freiraum bloß noch weiter eingeengt. Lediglich auf der Tanzfläche der Schuldisco, auf dem Spielplatz oder in meiner Leseecke erhielt ich eine Ahnung von dem, was ich heute ein selbstbestimmtes Leben nennen würde. Mein damaliges Dasein glich immer mehr einem Gefängnisaufenthalt.
Es blieb mir nur die Möglichkeit, durch »gute Führung« meinen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Doch das war nicht nur Berechnung. Nach wie vor glaubte ich, meinen Eltern Dank zu schulden. Alles, was ich unter ihrer Aufsicht erdulden musste, war immer noch besser, als der Kinderheimerziehung ausgesetzt zu sein. Trotz aller Zerwürfnisse empfand ich dieses neue Heim als das geringere Übel. Ohne es je offen auszusprechen, schloss ich innerlich mit Mutti einen Waffenstillstand, der bis zu meinem erhofften Auszug gelten sollte. Aber mit einem aufrichtigen Dankeswort war es nicht getan. Mutti hatte die unausgesprochene Erwartung an mich, ihr meine tiefempfundene Dankbarkeit fortwährend zu zeigen. Ich fand diese aufgesetzte Beflissenheit falsch, hatte dabei stets das Gefühl, mich zu verbiegen. Wenn sie mich wirklich versteht, dachte ich mir, müsste sie spüren, dass ich ihr von Herzen dankbar bin.
Trotzdem vermied ich es tunlichst, meiner Mutter einen Anlass zu liefern, um mich neuerlich zu verletzen. Ich wollte nicht verantwortlich sein für Zweifel am erwünschten Familienidyll. In dieser Hinsicht durchlebte ich die Erfahrung vieler adoptierter Kinder, wenn sie ihren Status erkannt haben: Sie lernen schnell und instinktsicher, die Signale ihrer Umgebung zu empfangen und zu deuten. Sie erkennen genau, welche Erwartungen an sie gerichtet werden, und versuchen sie so weitgehend wie möglich zu erfüllen. Denn sie spüren irgendwann, dass sie kein genetisches Recht auf ihre Existenz als Sohn oder Tochter haben, sondern dass sie dieses gewissermaßen als Gnadenerweis erhalten haben. So fühlen sie die Verpflichtung, sich ihr »Bleiberecht« durch größtmögliche Anpassung und Dankbarkeit zu verdienen.
Was diese Kinder allerdings oft nicht so schnell begreifen, ist der Preis, den ihnen ihr Entgegenkommen abverlangt – besonders, wenn sie die gesteckten Erwartungen nicht erfüllen können. Sie vermögen nicht abzuschätzen, was es nach sich ziehen kann, sich andauernd zu verstellen, wie sehr sie dabei Gefahr laufen, als eigenständige Wesen innerlich auszubrennen. Jedenfalls erging es mir so. Es war, als hätte sich meine seelische Batterie fast vollständig entladen. Ich gehorchte, übernahm Verantwortung, stellte meine Verlässlichkeit unter Beweis. Aber niemand, nicht einmal ich selbst
Weitere Kostenlose Bücher