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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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Blick meiner Eltern, konnte sie aber im Gegenlicht der Scheinwerfer nirgends ausfindig machen.
    Ohne wirklich die inhaltlichen Dimensionen zu erfassen, gelobten wir im Kollektiv nicht nur, »für die große und edle Sache des Sozialismus zu kämpfen«, sondern auch »unentwegt zu lernen«, unseren »Weg zum persönlichen Glück immer mit dem Kampf für das Glück unseres Volkes zu vereinen« und den »Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen«. Dennoch beteten wir die Gelöbnisformel nicht einfach nur pflichtgetreu herunter. Im Bann dieser feierlichen Liturgie vermochte ich den Parolen in diesem Moment tatsächlich Bedeutung abzugewinnen. Ich hatte das Empfinden, im Sprechchor einer großen Gemeinschaft anzugehören, die sich in aller Öffentlichkeit zu ihren Idealen bekannte. Die Zukunft, für die wir hier standen, konnte in jeder Hinsicht nur besser werden.
    Auch während der anschließenden Feier im Familienkreis durfte ich eine für mich gänzlich neue Erfahrung auskosten: einmal im Mittelpunkt zu stehen. Meine Großeltern, meine Tanten und Onkel, mein Cousin, meine Cousine, alle Familienangehörigen und Nachbarn waren eigens meinetwegen zu Besuch gekommen. Mittags speisten wir gepflegt im Stadthotel. Zum ersten Mal, seit ich zurückdenken konnte, durfte ich einfach nur am Tisch sitzen und es genießen, bedient zu werden. Selbst zum nachmittäglichen Kaffee bei uns zu Hause gab es genug helfende Hände, weshalb ich an diesem Tag von der Küchenarbeit befreit war.
    Nach dem Kaffee war der ersehnte Augenblick gekommen, an dem ich die Scheine aus den vielen Geschenkumschlägen zusammenzählen durfte. Wie durch ein Wunder ergaben sie ziemlich genau die Summe von eintausendsechshundert Ostmark, was mir erlauben würde, den ersehnten Radiorecorder zu erwerben.
    Würde. Denn wieder einmal hatte ich die Rechnung ohne die Wirtin gemacht. Meine Mutti war nämlich der Ansicht, dass ich mein Geldgeschenk nicht ausgerechnet in ein Gerät investieren sollte, das ihr dekadent oder gar subversiv erschien. Stattdessen sollte ich mir neue Kleidung kaufen. Sie glaubte offenbar, mit den erhaltenen Geldgeschenken in der Tasche könnte ich meine Garderobe eigenständig erneuern und so die Haushaltskasse entlasten.
    Fatalistisch wie üblich nahm ich auch diese Anordnung ohne Murren hin. Nach außen hatte ich es aufgegeben, mich aufzulehnen oder zu wehren. Was nutzte es, gegen eine Mauer anzurennen? Dabei stellte ich ebenso wenig wie Vati in Frage, dass Mutti die Rolle der Geldverwalterin in unserem Hause zukam. Sie bestimmte nicht nur über Ausgaben, die mich betrafen, sondern hütete die Haushaltskasse für die ganze Familie. Ich hatte damals kein Taschengeld zur eigenen Verfügung, was ich allerdings nicht als Mangel empfand. Geld, das ich begründet brauchte, bekam ich in der Regel auch. Leider blieb es mir dadurch verwehrt, frühzeitig den vernünftigen Umgang mit Geld zu lernen.
    Besonders gern unterhielt ich mich an jenem Nachmittag mit meiner Berliner Cousine Diana, die ich wegen ihrer Eleganz und Gewandtheit bewunderte, mit meinem Cousin Michael, der in unserer Straße wohnte, und mit Opa Heinz, weil sie alle drei ehrliches Interesse und Verständnis aufbrachten, wenn ich mich über meine Bevormundung beklagte. Für mich lag die wichtigste Bedeutung dieser Feier in der Erkenntnis, zur Familie zu gehören, ein fester Bestandteil dieses Verwandtschaftsgeflechts zu sein, das mir Halt gab.
    Auf den Fotos meines Festtags lässt sich erkennen, dass auch Bier, Wein und Schnaps die Runde machten. Selbst wir Jugendlichen durften an einem Glas Bowle oder Rotkäppchensekt nippen. Neben der Anspannung lockerten sich auch die Krawatten der männlichen Festgäste im Lauf der Feier. In diesem fröhlichen Kreis fühlte ich mich aufgehoben und war seit langer Zeit mal wieder in meinem Element.
    Meine Adoptivmutter, so erscheint es mir im Rückblick, sah dieses Ereignis durch eine andere Brille. Sie schien nicht in erster Linie mich und meine Jugendweihe zu feiern, sondern sich selbst. Sie war unendlich stolz auf ihre Erziehungsleistung – und ich gönnte es ihr. Nach ihren Vorgaben war ich es gewohnt, artig, bescheiden und vor allem dankbar zu sein, eigene Ansprüche hintenanzustellen. Ich gab stets die adrett grüßende, höflich lächelnde, fleißige Tochter. Heute erfüllt mich dieser permanente Druck, mich zu verstellen, mit Wut. Nicht nur Mutti und Vati, auch die Verwandten, die Nachbarn, die Kollegen meiner

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