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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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für eine Ausbildung zur Krankenschwester entschieden. Auf diese Weise konnte ich, wenn sich schon die Aussicht auf einen Beruf in der Kinderbetreuung zerschlagen hatte, zumindest meiner Neigung nachkommen, anderen Menschen zu helfen. Allerdings hatte diese Ausbildung einen Haken: Nach den drei Jahren auf der Krankenpflegeschule musste ich mich verpflichten, weitere drei Jahre Dienst im Bezirkskrankenhaus von Gera abzuleisten. Während dieser endlosen Zeitspanne blieb mir die Möglichkeit verwehrt, in eine andere Stadt zu wechseln und die ungeliebte Heimatstadt zu verlassen. Eine kleine Ewigkeit für mich. Da ich über eine Wohnmöglichkeit in meinem Elternhaus verfügte, befürchtete ich zudem, auf lange Sicht nicht einmal eine eigene Unterkunft beziehen zu dürfen.
    Corinnas Hinweis auf die Soldatenzeitschrift brachte mich nun spontan auf eine Idee, die diese Wartezeit immerhin um die Hälfte verkürzen würde. Könnte ich als Krankenschwester nicht auch in der Nationalen Volksarmee eine Beschäftigung finden?, überlegte ich. Dabei hatte ich jedoch keineswegs im Sinn, in Uniform dem »Machtinstrument der Arbeiterklasse«, wie sich die Armee selbst nannte, zu dienen. Mir ging es allein darum, dass diese Berufswahl die Aussicht bot, möglichst weit weg von Gera stationiert zu werden. Auf diese Weise könnte ich meiner Bestimmung, weitere sechs Jahre zu Hause festgehalten zu werden, ein Schnippchen schlagen. Der Geistesblitz hellte mein Gemüt sofort auf. Ich hatte unverhofft eine Perspektive gefunden.
    Nur hatte ich leider nicht die geringste Ahnung, wie ich meine Idee realisieren sollte. Weder meine Verwandten noch die wenigen Freundinnen und schon gar nicht meine Eltern wagte ich mit dieser Frage in Bezug auf meine berufliche Zukunft zu behelligen. Wer konnte mir also Auskunft über Chancen und Risiken des medizinischen Militärdienstes geben? In Zeiten, in denen es weder Internet noch Hotlines oder Infobroschüren gab, waren solche Informationen nicht per Mausklick oder mit einem kurzen Anruf einzuholen.
    Da fiel mir ein, was den Anstoß zu meinen Überlegungen gegeben hatte, und ich beschloss, mich mit einer Anfrage direkt an die Leserbriefseite der
Armeerundschau
zu wenden, die Interessierten ein viel gelesenes Forum für anonyme Fragen bot. Die Antworten der Leser wurden direkt an den Inserenten weitergeleitet – für mich die ideale Möglichkeit, diskrete Nachforschungen anzustellen.
    »Dazu eine Frage an die Jungen«, formulierte ich meine Zuschrift so allgemein wie möglich, nachdem ich kurz meine Ausbildungsperspektive beschrieben hatte. »Was würdest du machen und sagen, wenn deine Freundin, Verlobte oder Frau den Wunsch hätte, zur NVA zu gehen? Würdest du ihr abraten oder sie unterstützen?« In der Juli-Ausgabe 1984 fand ich meinen Text dann schwarz auf weiß abgedruckt. Die Resonanz war überwältigend. Über hundert Briefe konnte ich in den nächsten Wochen aus dem Postkasten fischen. Meine Eltern waren zwar anfangs erstaunt über die Flut, aber als ich ihnen die Angelegenheit erklärte, verfielen sie in das übliche gleichgültige Stillschweigen.
    Die Absender erwiesen sich überwiegend als Wehrpflichtige, und die Tendenz der Antworten war für mich eine große Überraschung: Nur etwa ein Drittel der Briefschreiber befürwortete mein Vorhaben, mich bei der Armee zu bewerben, uneingeschränkt. Die meisten rieten mir ab, aus unterschiedlichsten Gründen, manchmal unverblümt, meist hinter sehr vorsichtigen Formulierungen versteckt.
    Heute mag es exotisch klingen, aber zum ersten Mal in meinem Leben erhielt ich damals eine sachte Ahnung davon, dass man die Institutionen unseres Staates durchaus auch in Zweifel ziehen konnte. Das verunsicherte mich zutiefst. Es erschütterte mein Weltbild, das als Ergebnis einer gründlichen sozialistischen Erziehung in meiner Vorstellung fest zusammengefügt war. Für mich stand bisher außer Frage, dass unsere Armee hauptsächlich dazu diente, Land und Leute vor den äußeren Feinden zu beschützen. Es erschien mir geradezu unheimlich, dass jemand gegen die stets gepriesene Truppe Einwände vorbringen konnte. So legte ich rasch die Briefe beiseite, aus denen ich Vorbehalte herauslas und die mich verunsicherten. Unbewusst bevorzugte ich jene Schreiber, die sich ganz offensichtlich zu unserer »Friedensarmee« bekannten.
    Dennoch brachten die zweifelnden Stimmen meinen Plan, auf dem Weg über den Militärdienst meinen Horizont zu erweitern, wieder ins Wanken. Dafür

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