Entrissen
bemerkte, wie sehr mich diese Rolle überforderte. Ich bewältigte eine Aufgabe, der ich eigentlich nicht gewachsen war.
Erträglich wurde sie vor allem durch den Gedanken, der mich stets begleitete: Ich wollte raus aus Gera, egal wohin, Hauptsache, in eine andere Stadt, möglichst weit weg von hier. Die Fluchtfantasie wurde für mich zum Lebensinhalt. Jetzt bist du fünfzehn Jahre alt, kalkulierte ich nüchtern. Damit hatte ich den größten Teil der Erziehungszeit bei meinen Adoptiveltern schon hinter mir. Ein paar Jahre musste ich noch mit Anstand hinter mich bringen, dann würde ich endlich gehen dürfen, und alles würde sich zum Guten wenden. Von da an kreisten meine Gedanken fast nur noch um die Frage, wie ich zum frühestmöglichen Zeitpunkt entkommen könnte. Es ging sogar so weit, dass ich bewusst den Kontakt mit Jungs in meiner Umgebung mied, um mich auf keinen Fall durch eine engere Beziehung an meine Heimatstadt zu binden.
Seit mein Bruder Sören unsere Familie bereicherte, war mir bewusst, dass ich den Wettbewerb um die Gunst meiner Eltern verloren hatte. Sosehr ich mich auch bemühen mochte, zur Tochter, die sie genauso liebten wie ein eigenes Kind, würde ich niemals werden. Daher sehnte ich den Tag herbei, an dem ich mich zum Ende der zehnten Klasse von der Schule verabschieden würde.
Wenn ich die Stadt verlassen wollte, musste ich so bald wie möglich eine Berufsausbildung beginnen, die die Voraussetzung dafür liefern würde. Außerdem fand ich es von Tag zu Tag belastender, ausgerechnet die Schule zu besuchen, an der meine Mutter eine bedeutsame Funktion innehatte – so schön das zu Beginn war, sie auf dem Pausenhof ganz in der Nähe zu wissen. Noch mehr als andere Jugendliche in meinem Alter, drängte es mich, endlich auf eigenen Beinen zu stehen – um wegzugehen.
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20 .
N ach einigem Hin-und-Her-Überlegen strebte ich eine Berufsausbildung an, die mir sehr vertraut erschien. Ich beschloss, Heimerzieherin zu werden. Vielleicht neigte ich zu diesem Entschluss, da ich den Beruf aus eigenem Erleben kannte. Für mich stand jedenfalls fest, dass ich zukünftig bevorzugt mit kleinen Kindern arbeiten wollte. Ich bemerkte oft, wie sehr mir der Umgang mit ihnen lag, wie gern ich mich mit Jüngeren beschäftigte. Vielleicht holte ich, wenn ich mit ihnen spielte, auch meine eigene verlorene Kindheit nach. Nicht zuletzt konnte ich fünf Jahre Erfahrung als das Kindermädchen meines kleinen Bruders vorweisen.
So fügte es sich, dass ich in den Winterferien im Februar 1983 , fast auf den Tag genau elf Jahre nach meiner ersten Aufnahme in die staatliche Obhut, erstmals wieder ein Kinderheim betrat, diesmal als Praktikantin. Wie mein damaliges Domizil war der Hort in einer alten Villa untergebracht, die sich am Rand von Gera im schön gelegenen Stadtteil Ernsee befand, ganz in der Nähe eines Waldes. Es war ein wohltuendes Déjà-vu, denn die zweiwöchige Praxisarbeit in einer Betreuungseinrichtung für lernschwache Schüler machte mir von Beginn an Freude. Bei den etwa zwanzig zehn- bis zwölfjährigen Kindern fand ich die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ich sonst so schmerzlich vermisste. Sie hatten trotz ihrer Lernschwäche fast alle große Freude am Lernen und machten begeistert mit, wenn wir bastelten, spielten, herumtobten oder Ausflüge in die Natur unternahmen. Vor allem aber redeten wir. Mir, die ich so oft zum Schweigen verdammt war, tat das unendlich gut: einfach draufloszuerzählen, was mir gerade in den Sinn kam, aber auch als Ansprechpartnerin gefragt zu sein. Wie dankbar und offen die Kinder waren, wenn sie jemandem ihre Eindrücke und Sorgen anvertrauen durften, der sich gut in ihre Lage hineinversetzen konnte!
Meine Betreuungstätigkeit verstand ich zugleich als Versöhnung mit meiner Biografie. An den Kindern wollte ich etwas von dem wiedergutmachen, was mir selbst widerfahren war. Ich schenkte ihnen die Zuwendung, die ich all die Jahre selbst vermisst hatte. Auch von den Erwachsenen bekam ich eine unerwartete Gabe: Anerkennung und Lob. Ein anderer angenehmer Nebeneffekt meiner Tätigkeit im Heim war für mich, dass ich guten Gewissens den ganzen Tag von zu Hause fernbleiben durfte.
Ein weiteres Praktikum im Sommer, diesmal im Kindergarten von Langenberg, wirkte dagegen ernüchternd, denn mit den Kindern selbst hatten wir Praktikanten kaum zu tun. Unsere Einsatzbereitschaft durften wir lediglich als Putzfrauen und Aufsichtspersonen unter Beweis stellen, und sogar die
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