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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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Mahlzeiten mussten wir getrennt von den Kindern einnehmen.
    Meinem Entschluss für diese Berufsausbildung tat all das keinen Abbruch. Vorbedingung dafür war jedoch ein Eignungstest, der auch eine Untersuchung durch eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin beinhaltete. Für den Beruf des Kinderbetreuers gehören nun mal strapazierfähige Stimmbänder zur Grundausstattung. Was nutzt die beste pädagogische Befähigung, wenn man nicht in der Lage ist, sich Gehör zu verschaffen?
    In Begleitung meiner Mutti suchte ich die HNO -Praxis voller Zuversicht auf – und verließ sie zutiefst enttäuscht wie ein geprügeltes Kind. Das Testergebnis war niederschmetternd. »Deine Stimme ist nicht kräftig genug«, befand die Ärztin. Damit fehlte mir eine notwendige Voraussetzung für mein bevorzugtes Berufsziel. Eine einzige Diagnose ließ meinen Wunsch wie eine Seifenblase zerplatzen, denn durch dieses Attest waren mir Heim, Hort oder Kindergarten als künftige Arbeitsstelle verwehrt. Paradoxerweise wurde mir in dem ärztlichen Gutachten jedoch die Tauglichkeit attestiert, eine kombinierte Ausbildung als Unterstufenlehrerin und Pionierleiterin der FDJ anzutreten. Dafür schienen meine Stimmbänder offenbar auszureichen.
    Erst im Rückblick kamen mir Zweifel an dem ärztlichen Gutachten. Mutti hatte meinem Berufswunsch von Anfang an nicht viel abgewinnen können. Vielleicht überwog bei ihr die Sorge, dass die Beschäftigung mit Kindern mich aufs Neue mit meinem Kindheitstrauma konfrontieren könnte. Hatte sie sich hinter meinem Rücken mit der Ärztin verbündet, um mir diesen Weg zu verbauen und mich zugleich in eine Pionierleiterfunktion zu lotsen, die ihren politischen Vorstellungen viel eher entgegenkam? Eine Bestätigung für diese Verschwörungstheorie erhielt ich nie.
    In meinem Abschlusszeugnis der neunten Klasse ist lediglich lobend vermerkt, dass ich in diesem Jahr einen Pionierzirkel der siebten Klasse geleitet und in der »politischen Diskussion einen positiven Standpunkt« vertreten hätte. Das deutet immerhin darauf hin, dass ich ideologisch ausreichend sattelfest gewesen sein muss. Die Ausbildung zur Pionierleiterin und Unterstufenlehrerin hätte mir jedenfalls den klassischen Weg zur Politiklaufbahn in der DDR geebnet.
    In meinen eigenen Erinnerungen spiegelt sich dieser angebliche Eifer für die staatliche Jugendarbeit nicht wider. Ich muss erfolgreich verdrängt haben, wie aktiv ich jenem Staat zu Diensten war, der – ohne dass ich es ahnte – mein persönliches Glück zerstört hatte. Gut möglich, dass ich dies zum Wohlgefallen meiner Mutti tat. Wenn ich schon genetisch nicht eins mit ihr war, so wollte ich ihr wenigstens in meinem Engagement nahe sein.
    In der Rückschau betrachte ich mich als unpolitische Mitläuferin. Den Unterricht im Fach Marxismus-Leninismus, dem offiziellen Katechismus unseres Staates, besuchte ich mit Widerwillen. Stolz auf den Staat, auf Sigmund Jähn, den ersten deutschen Raumfahrer im All, oder auf die Olympioniken der DDR ging mir vollkommen ab. Ich war vor allem froh, wenn ich meine Ruhe hatte.
    Ich sah allerdings auch keinen Anlass, an meiner Republik zu zweifeln. Mein ganzes Denken war viel zu sehr durch meine familiäre Situation blockiert, um mich kritisch mit dem politischen Geschehen auseinanderzusetzen. Da mich die Kinder aus regimekritischen Elternhäusern wegen meiner Mutti mieden und zu Hause kein Westsender lief, bekam ich nie eine Gegenmeinung zu hören. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es mir materiell an irgendetwas fehlte, und wäre selbst im Traum nicht auf die Idee gekommen, aus der Republik in den für mich eher unheimlich anmutenden Westen zu fliehen. Nicht die DDR empfand ich als Gefängnis, sondern mein Elternhaus.
    In meinen Fluchtträumereien stieß ich jedoch immer wieder an die Stadtgrenzen von Gera – bis die beiläufige Bemerkung meiner Schulfreundin Corinna mir unverhofft einen Ausweg wies. Freudestrahlend eröffnete sie mir eines Tages, als ich sie nach ihrem Befinden fragte, dass sie nun einen Freund habe, spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Auslöser war ihr Leserbrief an die
Armeerundschau,
die auflagenstärkste Soldatenzeitschrift des Landes. Doch was mich an ihrer Erzählung fesselte, war gar nicht so sehr diese mir bislang unbekannte Möglichkeit zur Kontaktanbahnung, sondern die Aussicht, dieses Leserbriefforum für meine eigene berufliche und persönliche Zukunft nutzen zu können.
    In der Zwischenzeit hatte ich mich auf Anraten meiner Mutti

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