Entrissen
als irgendwo sonst in Gera.
Meine Freizeit war ausgefüllt vom regen Briefwechsel, den meine Zeitungszuschrift ausgelöst hatte. Den umfangreichsten Austausch pflegte ich mit Soldaten, die mich in meiner positiven Sichtweise unserer Armee bestärkten. Allerdings reizte mich eine der eher skeptischen Zuschriften dann doch zu einem vertiefenden Briefkontakt. Oder lag es eher am Verfasser der Briefe? Auf Anhieb war ich davon angetan, dass er sich nebenbei noch als Musiker betätigte. Tommi, ein Professorensohn aus Berlin, hegte den Wunsch, Medizin zu studieren, und für sein Berufsziel war ein dreijähriger Wehrdienst die Voraussetzung. Als musisch geprägter Mensch sträubte er sich dagegen, in den Befehls- und Gehorsamsapparat eingebunden zu werden, obwohl er lediglich Menschen heilen wollte. Aus diesem Blickwinkel hatte ich den Dienst der Armee noch nie betrachtet.
Nach ausgiebigem Briefwechsel verabredeten wir uns im Februar 1985 , da er Ausgang hatte und sich die Möglichkeit bot, im Restaurant des Stadthotels Gera. Tommi, ein schlanker, eher drahtiger Mann mit stoppelkurzem Armeehaarschnitt und legerer Kleidung, hatte sich dort für den Abend ein Zimmer gebucht.
Auch wenn sich mein Wissen weitgehend auf abstrakte Lehrinhalte aus dem Biologieunterricht oder der Stadtbibliothek beschränkte und meine Mutti mich nicht einmal auf meine erste Regelblutung vorbereitet hatte, konnte ich mir ausmalen, welche eindeutigen Absichten mit dieser Zimmerreservierung verbunden waren. Und das war mir durchaus recht. Ich war inzwischen siebzehneinhalb Jahre alt und wollte auf keinen Fall arg- und ahnungslos sein, bevor ich einem möglichen Traummann in die Arme lief. Mir schien die Zeit reif für meine erste sexuelle Erfahrung – und das möglichst, ohne gleich in eine feste Beziehung zu geraten. Vor unserer ersten Begegnung schluckte ich daher vorsichtshalber die Pille.
Bei einem einfachen Abendessen und einer Flasche Wein im Hotelrestaurant bestätigte Tommi den sympathischen Eindruck, den ich aus seinen Briefen gewonnen hatte. Wir beklagten uns wechselseitig über unsere Dienstverpflichtungen.
»Sobald ein Vorgesetzter auch nur entfernt in Sichtweite ist, musst du die Handkante an die Schläfe pressen – wie ein Hampelmann. Alles ist penibelst vorgeschrieben«, lamentierte mein Gesprächspartner.
»Das klingt ja fast wie bei mir zu Hause«, entgegnete ich schmunzelnd, um dann ernsthaft hinzuzufügen: »Weißt du, ich hab einfach die Schnauze voll. Ich will nur noch raus hier. Ich sehne so den Tag herbei, an dem ich dieses Kaff endlich verlassen kann, glaub mir.«
Tommi ahnte, worauf ich hinauswollte, und warnte mich: »Glaub bloß nicht, dass irgendwas besser wird, wenn du dich bei der Volksarmee verpflichtest. Da gerätst du nur von einer Abhängigkeit in die nächste.«
Nach dem Essen griff Tommi in seinem Hotelzimmer zu seiner Westerngitarre und stimmte einige der damals beliebten amerikanischen Popsongs an. Schon während unseres Briefwechsels hatte ich ihn ausdrücklich gebeten, mir bei unserem Treffen seine Sangeskünste vorzuführen. Ich war peinlich, aber auch angenehm berührt, dass er sein Instrument eigens meinetwegen mitgebracht hatte und mir obendrein gestand: »Ich singe das nur für dich.« Irgendwann im Verlauf des Abends, als seine Stimme schon etwas brüchig wurde, legte er das Instrument zur Seite und seine Hände stattdessen auf meine Hüften.
Am nächsten Morgen holte ich ihn in seinem Hotel ab, um mit ihm im Stadtpark an der Weißen Elster entlangzuschlendern. Es war ein strahlender Wintertag, und die Flaneure im Park genossen sichtlich die noch ungewohnte Sonnenwärme. Trotz des strahlenden Wetters fühlte ich mich etwas ernüchtert. Das sollte es also gewesen sein, wovon meine Mitschülerinnen hinter vorgehaltener Hand bisweilen getuschelt hatten? Mir kamen die Turnübungen im Hotelbett eher unspektakulär vor, und empfunden hatte ich auch nicht viel dabei. Ich konnte nicht nachvollziehen, was die anderen angeblich so toll daran fanden.
Während Tommi und ich Hand in Hand spazieren gingen, kam mir der Mann an meiner Seite auf einmal fremd vor. Später beteuerte er in einem Brief mehrmals, dass ich unsere Bettgeschichte bloß nicht mit Liebe verwechseln sollte. Er hoffe nur, dass ich mich nicht in ihn verliebt hätte. In dieser Hinsicht brauchte er sich nicht zu sorgen. Ich zog eine völlig andere Schlussfolgerung aus unserer Begegnung: Körperliche Liebe erschien mir nichtssagend, wenn sie
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