Entrissen
Renaissance-Rathaus, das Arnstadt schon zierte, als Johann Sebastian Bach hier noch als Organist gastierte. Es war einer jener Spätherbsttage, an denen die kühle Luft schon den Winter ankündigte, während die strahlende Sonne den Sommer nachklingen ließ. Im stilvollen Rathausambiente wurden wir wie zum Examen aufgerufen und auf unsere Plätze gebeten. Ich war ganz beseelt von der Vorstellung, dass in der Trauungsurkunde unter meinem Namen als Zweitwohnsitz Binz eingetragen war. Bis zum Ende meiner Krankenpflegeausbildung musste ich zwar noch in Gera verweilen, aber die freie Zeit konnte ich schon jetzt an der Ostseeküste verbringen, die in einem Dreivierteljahr ganz zu meiner Heimat werden würde. Der Mann an meiner linken Seite war somit für mich mein Retter. Er würde mich aus meinem Aschenputtel-Dasein bald in sein fernes Reich mitnehmen. Dann würde sich auch die Liebe einstellen, malte ich mir aus, deren ich mir jetzt noch nicht ganz sicher war.
Von hinten spürte ich die Hand meines Vaters auf meiner Schulter und genoss die Geste, mit der er mir mein halblanges Haar glatt strich. Dann beugte er sich vor und flüsterte mir, unhörbar für die Umsitzenden, ins Ohr: »Katrin, noch kannste nein sagen!« Er musste mich beobachtet und wohl meine Zweifel irgendwie gespürt haben.
Etwas hilflos wisperte ich zurück: »Vati, jetzt ist es gelaufen. Ich hab die Traute nicht mehr.«
Olaf vor versammelter Runde durch einen Rückzieher bloßzustellen, das hätte ich niemals übers Herz gebracht. Stattdessen hielt ich mich an meiner Mutmacherparole fest: Katrin, jetzt wirst du bald ganz weit weg ein neues Leben beginnen! Schon als kleines Mädchen hatte ich davon geträumt, einmal eine eigene Familie mit Kindern zu gründen.
Die Standardansprache der Standesbeamtin war jedoch kaum dazu angetan, romantische Gefühle zu wecken. Sie reihte Floskel an Floskel, und ich hatte selbst mit gutem Willen Mühe, dieser Abfolge unpersönlicher Leerformeln zu folgen. Nachdem sie ihren Sermon beendet hatte, kam der Schlüsselmoment. Wir steckten uns gegenseitig unsere Verlobungsringe aus vietnamesischer Fertigung vom linken auf den rechten Ringfinger um, was sie zu Eheringen umfunktionierte. Diese Geste vollzog sich ähnlich steif wie der anschließende Trauungskuss, der die Zeremonie abschloss. Olaf allerdings strahlte vor Genugtuung über das ganze Gesicht und brachte einen Stolz zum Ausdruck, den ich in mir noch nicht finden konnte.
Gleichzeitig gefiel mir das dominante Auftreten meines frischgebackenen Ehemannes sehr. Er wusste, was er wollte, und war nicht so ein Zauderer wie ich. Die Liebe wird schon wachsen, wenn wir erst einmal zusammen sind, redete ich mir ins Gewissen. Die paar Macken erziehe ich ihm schon noch ab. Ich war gerade einmal neunzehn Jahre alt und bar jeder Lebenserfahrung außerhalb meines Elternhauses. Liebe war für mich gleichbedeutend mit Erwartungen, die ich zu erfüllen hatte. Am Ende obsiegte der befreiende Gedanke: Diese neue Wirklichkeit muss auch Mutti jetzt endlich akzeptieren.
Am Rathausportal absolvierten wir das übliche Hochzeitsbrauchtum, zerschnitten erst mit der Nagelschere ein Band, das uns den Weg versperrte, und sägten dann ein Baumstück in zwei Hälften, nachdem wir uns zuvor bereits unseres Kleingeldes entledigt hatten. Für einen kurzen Moment musste ich daran zurückdenken, wie mein Bruder Mirko und ich auf dem Marktplatz von Gera einst die frisch getrauten Paare im Reisregen beobachtet hatten, was mir damals als Inbegriff des Glücks erschienen war.
Die Aufforderung zum Einstieg in die wartende Kutsche, die uns zur Hochzeitsfeier abholte, riss mich aus meinen Gedanken.
Unterwegs gab Olaf dem Kutscher das Zeichen zum Anhalten, ohne mich vorher in sein Vorhaben eingeweiht zu haben. Er vertrat nämlich die Auffassung, dass an so einem Feiertag die Opfer des Faschismus nicht unbedacht bleiben durften. Wir stiegen also aus und hielten in stillem Gedenken inne. Ein Mahnmal wie dieses gab es in jeder noch so kleinen Gemeinde der DDR , und es wurden damit fast überall nur kommunistische Antifaschisten geehrt, als wären sie die einzigen Leidtragenden des NS -Regimes gewesen. Darüber dachte ich damals zwar nicht nach, dennoch berührte es mich peinlich, unsere persönliche Familienfeier in eine öffentliche Demonstration umfunktioniert zu sehen. Ich empfand die Blicke der Umstehenden wie Brandmale auf der Haut und war froh, dass mich hier, über hundert Kilometer von meiner
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