Entscheide dich, sagt die Liebe
muss mit Jim Rosenblatt sprechen.« Sie suchte Paolos Blick. »Ich habe mich entschlossen, morgen nach Vancouver zu fliegen.«
»Aber Clara!« Er glaubte, er hätte nicht richtig gehört. »Es sind nur noch wenige Tage bis zum Fest!« Du kannst diesen Jim doch auch anrufen. Oder nach unserer Verlobung hinfahren.« Wieder einmal packte er sein breitestes und sonnigstes Lächeln aus, das sonst immer funktionierte.
Doch sie schüttelte den Kopf. »Bitte versteh mich, Paolo. Ich will eine strahlende Braut an deiner Seite sein und das kann ich nur, wenn ich diese Angelegenheit vorher kläre. Dazu muss ich Jim in die Augen sehen können. Richtig in die Augen sehen, nicht durch die Optik einer Webcam.« Noch nie hatte er sie so entschlossen gesehen. »Natürlich werde ich rechtzeitig wieder da sein und mich selbst um das Kleid kümmern.«
Paolo schluckte. Enttäuscht sah er sich um. Als er das schadenfrohe Lächeln auf Danieles Lippen entdeckte, spürte er den ganzen Zorn von vorhin erneut aufwallen. Er musste sich zusammenreißen. Musste ihn hinunterschlucken und seine Hand kontrollieren, die so gern mitten in das lächelnde Gesicht seines Freundes hineingeschlagen hätte.
Love like a shadow flies when substance love pursues; Pursuing that that flies, and flying what pursues.
Shakespeare, The Merry Wives of Windsor
Wie Schatten flieht die Lieb’, indem man sie verfolgt.
Sie folgt dem, der sie flieht, und flieht den, der ihr folgt.
Shakespeare, Die lustigen Weiber von Windsor
S ie trafen sich im Stanley Park, am Eingang zum Aquarium. Clara war früher gekommen als vereinbart. Sie setzte sich auf eine der Bänke und beobachtete die Menschen, die die grüne Oase Vancouvers auf verschiedenste Arten nutzten. Studenten saßen im Gras, diskutierten, starrten in Bücher oder sonnten sich. Ältere Paare fuhren Rad, Kinder quengelten vor dem Stand eines Eisverkäufers. Jogger joggten, Krawattenträger mit Aktentaschen liefen im Stechschritt vorbei, Touristen in Shorts bummelten, Althippies lungerten unter Bäumen und rauchten. Jim kam pünktlich, und obwohl sie sein Gesicht nur einmal auf dem Bildschirm ihres Laptops gesehen hatte, erkannte sie ihn schon von Weitem.
Er trug indianische Leggins und ein lilafarbenes Leinenhemd, das bis zur Brust aufgeknöpft war. Lachend schloss er Clara in seine Arme. »It’s a real pleasure to meet you, eh? Wie war dein Flug?«
»Ich habe den Großteil verschlafen. Danke, dass du dir Zeit genommen hast.«
»Ich bin stolz darauf, ein Mitglied der Familie kennenzulernen, die meinem Opa so viel Gutes getan hat.«
Seine freundlichen Worte bohrten sich wie Kakteenstacheln in ihr Fleisch. Wie würde er die Wahrheit aufnehmen? Würde er danach noch mit ihr sprechen? Oder ihr ins Gesicht spucken? »Macht es dir was aus, ein bisschen rumzulaufen?«, fragte sie. Wenn man in Bewegung war, redete es sich leichter.
Sie trabten los, plauderten locker über die Vorzüge von Stadtparks, als hätten sie einander schon immer gekannt. Clara hätte sich stundenlang mit ihm unterhalten und dabei durch das idyllische Grün spazieren können. Aber die Zeit war reif für ihr Bekenntnis. Also atmete sie tief durch und nahm all ihren Mut zusammen.
»Ich bin hergeflogen, um dir zu sagen, wer Schlomo und Esther verraten hat, im Januar 1945, und warum.« Ein Schweißtropfen lief nackenabwärts und kitzelte sie zwischen den Schulterblättern. Sie beachtete ihn nicht.
Jim rieb ein paarmal über sein Kinnbärtchen. »Du hast herausgefunden, wie das Schwein heißt, das zwei Menschen auf dem Gewissen hat?«
»Hieß. Das Schwein ist tot.« Clara lachte auf, ein gequältes Lachen, das in Wahrheit ein Schluchzen war. »Leo hat er geheißen. Leo Prachensky, mein Vater.«
Jim sagte nichts, er ging im selben Tempo weiter und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Trotz des Lärms der übrigen Parkbesucher war es plötzlich eigenartig still. So still, dass sich das Knirschen der Steinchen unter den Schuhsohlen wie eine Serie von Explosionen anhörte. »Das ist nicht dein Ernst«, murmelte er endlich. »Das glaube ich nicht. Mein Opa hat es auch nie geglaubt.«
»Vielleicht hat er es nicht glauben wollen.«
»Aber Leo hätte doch nie seinen eigenen Vater …«
»Er hat es getan, weil er unbedingt Musiker werden wollte und weil er keine andere Möglichkeit sah, sein Ziel zu erreichen. Es war ein absolut kaltblütiger Plan, mit dem er zwei Fliegen auf einen Schlag erledigt hat. Erstens hat er damit
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