Entscheidung in Gretna Green
Welt sich auf den Kopf gestellt hatte? Sie hatte fest damit gerechnet, Oliver hier anzutreffen und die leidige Sache zu einem raschen Ende zu bringen.
Felicity verspürte einen bitteren Geschmack im Mund. „Wenn wir sofort wieder aufbrechen, könnten wir Gloucester erreichen, bevor die zwei sich wieder auf den Weg machen.“
„Es sind gute fünfzehn Meilen bis Gloucester.“ Hawthorn schüttelte zweifelnd den Kopf. „Um diese frühe Stunde sind viele Fuhrwerke und Karren unterwegs, die zum Markt wollen. Wenn wir Glück haben, erreichen wir die Stadt gegen Mittag. Nicht einmal Ivy schläft so lange.“
Felicity wäre ihrem Neffen und Miss Greenwood am liebsten an die Kehle gegangen. Das hatte ihr grade noch gefehlt, den Ausreißern bis nach Schottland zu folgen!
„Im Übrigen“, er machte eine Handbewegung zum Fenster, vor dem die Kutsche stand, „können wir nicht weiterfahren. Wir brauchen frische Pferde, und Ihre Männer müssen sich ausruhen. Und außerdem will ich den Straßenräuber loswerden. Ich werde ihn bei der nächsten Schutzwache abliefern.“
Hatte die ganze Welt sich gegen sie verschworen?, fragte Felicity sich erzürnt. Der kalte Schweiß brach ihr aus, und ihr Magen drohte sich jeden Moment umzudrehen. Hätte sie sich gestern Abend nicht völlig entleert, würde sie sich vor allen Leuten mitten im Vorraum des King’s Arms übergeben müssen.
Und schlimmer noch, in Hawthorn Greenwoods Gegenwart.
Es würde ihr recht geschehen, wenn er sie einfach stehen ließe, dachte Hawthorn erbost. Mit dem Geld, das er beim Glücksspiel gewonnen hatte, sollte er den jungen Armitage und seine Schwester alleine verfolgen und Felicity Lyte ihrem Schicksal überlassen.
Wären die kurzen süßen Stunden nicht gewesen, nachdem er sie vor dem Straßenräuber gerettet hatte … Aber jetzt gab Lady Lyte ihm deutlich zu verstehen, dass weder sein Rat und seine Hilfe noch seine Gesellschaft erwünscht waren. Warum zog er sich nicht einfach zurück und überließ sie ihrem Schicksal, wie jeder vernünftige Mann es tun würde?
Bis vor Kurzem hatte er sich für einen vernunftbegabten Mann gehalten. Und dann hatte er in Felicity Lytes unvergleichlich grüne Augen geblickt und sich darin verloren.
Im Moment freilich war der Glanz dieser grünen Augen erloschen, und der rosige Hauch in ihrem Gesicht war einer besorgniserregenden Blässe gewichen.
„Was ist mit Ihnen, meine Liebe?“ Er griff nach ihrer eiskalten Hand. „Sie sehen schrecklich aus.“
„Und Sie haben noch eine Menge über höfliches Benehmen zu lernen, Mr. Greenwood.“ Empört entriss sie ihm ihre Hand. „Natürlich sehe ich schrecklich aus. Wie könnte es anders sein? Ich wurde aus dem Schlaf gerissen und gezwungen, nachts über holprige Straßen zu fahren. Dann der Überfall dieses Banditen. Nun sehe ich mich auch noch genötigt, meinem undankbaren Neffen durch ganz England nachzujagen. Müsste ich mich jetzt im Spiegel sehen, ich würde ihn wohl zerschlagen.“
Die anderen Gäste warfen bereits fragende Blicke in ihre Richtung. Hawthorn, der nichts mehr verabscheute, als neugierig gemustert zu werden, führte Felicity mit sanftem Druck zu einer Nische neben der Treppe.
„So habe ich das nicht gemeint, das wissen Sie genau. Sie sind schön wie immer, Felicity. Aber Sie sehen erschöpft aus … oder krank.“
Bevor sie zu einer scharfen Entgegnung ansetzen konnte, hielt er beide Handflächen hoch in gespielter Unterwerfung. „Was nicht verwunderlich ist nach den ausgestandenen Strapazen. Aber ich bitte Sie, mir nur noch einmal zuzuhören. Sie brauchen Schlaf und müssen etwas essen. Auch Ihre Diener und die Pferde brauchen Rast. Ich spreche mit dem Wirt, während Sie sich ausruhen. Und ich kümmere mich darum, dass der Räuber in Gewahrsam genommen wird.“
Wie durch ein Wunder ließ Felicity ihn ausreden, ehe sie fragte: „Was soll danach geschehen?“
Nur mühsam konnte Hawthorn sein Erstaunen verbergen. Er hatte mehr Kampfgeist und Widerspruch erwartet. „Danach besprechen wir, was wir als Nächstes tun.“
„Einverstanden.“
„Ist das Ihr Ernst?“
Ihre Augen blitzten wieder und entfachten eine Flamme in seinem Herzen. „Was soll die Frage? Denken Sie, ich widerspreche Ihnen nur, weil es mir Spaß macht?“
„Nein, natürlich nicht“,log er.„Ich dachte nur …“ Er führte den Gedanken nicht zu Ende. Jedes weitere Wort würde ihren Widerspruchsgeist wecken und ihm nur Ärger einbringen. „Schon gut.“
Die Gäste
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