Entscheidung in Gretna Green
erneut in einen tiefen Abgrund zu stürzen. Wieder erlebte er das Wunder der Schwerelosigkeit, das scheinbar nicht endende Fallen, bevor er zerbersten und sich verlieren würde. Diesmal aber folgten dem Sturz ins Nichts weder Schmerz noch Grauen, sondern Erfüllung und Glück.
Er verweilte lange in diesen dunklen, warmen Tiefen und fühlte sich frei wie nie zuvor, losgelöst von allen Bedrängnissen des Lebens. Nichts könnte ihn zur Rückkehr in die Wirklichkeit bewegen … nur die betörende Verheißung, Felicity erneut zu lieben.
Diesmal ganz langsam und bedächtig.
Ihre Lippen an seinem stoppelbärtigen Kinn verlockten ihn, die Augen zu öffnen. Er wollte und durfte keine Sekunde dieser Nacht vergeuden, ohne im Anblick ihrer Schönheit zu ertrinken.
„Ich muss gestehen, Sie verfügen über phänomenale Selbstheilungskräfte, Sir.“
Mit einem seligen Lächeln schälte sie sich aus Kleid und Strümpfen. „Wer würde glauben, dass du noch vor einer Stunde zu schwach warst, um ein Sandwich zu halten?“
Diese Dreistigkeit durfte er nicht hinnehmen, ohne sie mit einem Kuss zu bestrafen.
„Ein Patient, der unter Ihrer geschickten Pflege nicht wieder zu Kräften käme, wäre ein hoffnungsloser Fall, Mylady.“ Zärtlich strich er über ihre Brüste. „Hinsichtlich meiner Heilung … steht Ihnen noch einiges bevor.“
Unter dem dichten Kranz ihrer Wimpern warf sie ihm ei nen trägen Blick zu. „Bei jedem anderen Mann würde ich das als Prahlerei werten, Mr. Greenwood. Aber Sie habe ich bisher nicht als Aufschneider kennengelernt.“
„Ich habe auch gute Gründe, mich nicht als Aufschneider hervorzutun“, entgegnete er nur halb im Scherz. Der schwache Schein des Feuers vergoldete seine plötzlich gespannten Gesichtszüge.
„Gute Gründe, stolz zu sein, willst du wohl sagen“, entgegnete sie. „Ich kenne niemanden aus deinem Bekanntenkreis, der nicht respektvoll von dir spricht. Sogar Weston St. Just, der eigentlich an keinem ein gutes Haar lässt.“
Ermüdend respektabel. Plötzlich spürte Hawthorn beinahe körperlich die Enge der Fesseln von Konvention, Anstand und Sitte. Das Liebesabenteuer mit Felicity war nur eine zeitlich begrenzte Flucht aus diesem Gefängnis. Er wäre wahnsinnig, sich völlig von diesen Ketten befreien zu wollen. Was bliebe ihm denn noch, wenn er auch seinen guten Ruf verlieren würde?
„Zumindest kannst du stolz auf deine beiden Schwestern sein“, beharrte Felicity. „Ivy sprach einmal davon, dass du sie und ihre Schwester praktisch alleine aufgezogen hast.“
„Das beruhte auf Gegenseitigkeit.“ Seufzend rollte er sich auf den Rücken, und Felicity barg den Kopf in seiner Schulterbeuge. „Zwei großartige Mädchen. Du hast natürlich recht – ich bin stolz auf sie, aber letztlich ist es nicht mein Verdienst, was aus ihnen geworden ist.“
Er lachte leise. „Siehst du? Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Welcher Mann redet schon über seine Schwestern, wenn er seine schöne Geliebte in den Armen hält, die er soeben beglückt hat – und es gleich wieder tun wird?“
Zum letzten Mal.
Um den Gedanken nicht laut auszusprechen, presste er die Lippen zusammen. Wieso war er eigentlich nicht fähig, die Gegenwart zu genießen, ohne über Vergangenes zu grübeln oder sich um die Zukunft Sorgen zu machen?
Er wusste nicht, welche Antwort er von Felicity erwartet hatte. Ganz gewiss hatte er nicht damit gerechnet, dass sie ihm sanft die Wange streichelte.
„Ein wunderbarer Mann, würde ich sagen.“
Eigentlich wollte sie dem nichts hinzufügen, dennoch sprudelten die Worte aus ihr. „Ich wünschte, ich wäre von Menschen erzogen worden, die mein Wohlergehen vor ihre eigenen Bedürfnisse gestellt hätten.“
Hawthorn fühlte sich ertappt, ließ er doch gerade in diesem Moment seine Schwester kläglich im Stich. Es lag gewiss nicht in Felicitys Absicht, ihm sein Verhalten vorzuwerfen, das wusste er. Schließlich hatte sie ihn selbst davon abgehalten, Ivy und Oliver alleine zu verfolgen, wie er es vorgehabt hatte. Dennoch versetzten ihm ihre Worte einen Stich.
Zugegeben, kurz nachdem er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war er ein bisschen unsicher auf den Beinen gewesen. Aber das hätte ihn nicht aufhalten können, wenn er es wirklich gewollt hätte. Und gegen seinen Willen hätte auch Felicity ihn niemals zurückhalten können. Aber er hatte sich diese letzte Nacht mit ihr sehnlichst gewünscht und war bereit gewesen, aus reiner Selbstsucht das künftige Glück
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