Entscheidung in Gretna Green
bis zum Kinn hochgezogen.
Er klopfte auf den Platz neben sich. „Komm jetzt. Bei meiner Ehre schwöre ich, dich in Frieden zu lassen.“
Mit zögernden Schritten näherte sie sich, als versuche eine unsichtbare Macht, sie daran zu hindern. Ihr ungewöhnliches Schweigen war ihm zwar lieber als eine weitere hitzige Auseinandersetzung, beunruhigte ihn aber auch. Also versuchte er, sie mit einer scherzhaften Bemerkung aufzuheitern.
„So süß die Verlockung auch ist, fürchte ich, mich für diese Nacht völlig verausgabt zu haben, meine Liebe.“ Er verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse und wurde mit einem dünnen Lächeln belohnt, als Felicity zu ihm ins Bett kroch.
Sorgsam breitete er die Decke über sie und erschrak, als ihre eiskalten Füße ihn berührten. „Ich tauge nur noch dazu, dich in den Armen zu halten und zu wärmen.“
„Ein nicht zu unterschätzender Liebesdienst“, murmelte sie schläfrig.
Sie drehte ihm den Rücken zu, und als er sich an sie schmiegte, ließ sie ihn gewähren.
Er sollte ihr vorschlagen, die Verfolgung alleine fortzusetzen, überlegte Hawthorn und barg seine Wange an ihrem Haar. Da sie mittlerweile die Unannehmlichkeiten der Reise zu spüren bekommen hatte, würde sie sich vielleicht damit einverstanden erklären, zumal damit zu rechnen war, dass die Jagd erst in Gretna Green zu Ende wäre. Aber er wollte sich noch nicht von ihr trennen, viel zu schön war das gemeinsame Abenteuer dieser Reise.
Es geschah wohl zum ersten Mal in seinem Leben, dass Hawthorn seine Überlegungen nicht ausschließlich von seiner Vernunft diktieren ließ. Diese schwierige Situation beunruhigte und erregte ihn gleichermaßen.
Vergeblich wehrte Felicity sich gegen das wohlige Gefühl, dass sie überkam, als er sie fest in seinen Armen hielt. Sie fühlte sich sicher und geborgen, und gegen alle Vorsätze freute sie sich, am nächsten Morgen auch wieder in seiner Umarmung zu erwachen. Erstaunlich, dass ihr nicht einmal das unbequeme, viel zu schmale Bett etwas ausmachte.
Sie war nicht daran gewöhnt, auf Annehmlichkeiten zu verzichten – ganz im Gegenteil. Glück konnte sie zwar mit Geld nicht kaufen, sehr wohl aber Unabhängigkeit und Vergnügen. Und bis vor Kurzem war sie damit recht gut zurechtgekommen. Aber nun war sie zum ersten Mal nach langer Zeit ratlos, wie sie weiterleben sollte.
„Wir sollten überlegen, wie wir vorgehen.“ Das weiche Raunen nah an ihrem Ohr fasste ihre Gedanken in Worte.
Die unsinnige, aber verstörende Vorstellung, er könne die bangen Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten, hören, schärfte Felicitys Ton. „Ich bin ratlos. Ich habe beinahe das Gefühl, die Ausreißer führen uns absichtlich in die Irre, doch das ist natürlich völlig lächerlich.“
Vielleicht sollte sie Oliver einfach fallen lassen, ihn mit Geld versorgen und aus ihrem Leben verbannen, wenn sie sich in einen abgeschiedenen Winkel zurückzog, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Schließlich war er kein Blutsverwandter.
Hawthorn lachte leise. „Dein Neffe steht zweifellos unter dem Einfluss meiner Schwester. Ivy hat in ihrem ganzen Leben nie das getan, was man von ihr erwartete. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass der arme Oliver sich mittlerweile sogar wünscht, jemand möge ihn daran hindern, die kleine Hexe zu heiraten. Er scheint ja ein wahrer Ausbund an Tugend zu sein, wohlerzogen, einsichtig, wissbegierig und vernünftig – so war er wohl schon als kleiner Junge.“
„Damit magst du recht haben.“ Felicity lächelte nachdenklich. „Allerdings weiß ich nicht, wie Oliver als kleiner Junge war. Als ich ihn kennenlernte, ging er schon zur Schule und erschien mir viel zu ernsthaft und reif für sein Alter.“
Irgendwie hatte das stille, vernachlässigte Kind sich in ihr einsames Herz geschlichen, was einem lauten, frechen Knaben kaum gelungen wäre. Schon deshalb konnte sie ihn jetzt nicht im Stich lassen, mochte er ihr auch noch so große Sorgen bereiten.
„Percy hatte Oliver im ersten Jahr unserer Ehe eingeladen, die Sommerferien in Trentwell zu verbringen. Ich hatte damals den Eindruck, der schüchterne Junge fühlte sich wohl bei uns, obwohl er dem Frieden irgendwie nicht recht zu trauen schien.“
„Armitage ist demnach der Neffe deines verstorbenen Mannes?“
Felicity nickte. „Der Sohn von Percys Schwester. Die Eltern lebten in Indien und schickten den Jungen nach England zur Schule. Kurz darauf wurde sein Vater in einem dieser grässlichen Kolonialkriege
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