Entscheidung in Gretna Green
handelte es sich nicht um Liebespaare, die es eilig hatten, die schottische Grenze zu passieren, um sich gegen den Willen ihrer Familien in Gretna Green vom Dorfschmied trauen zu lassen.
Er hatte längst aufgehört zu zählen, wie viele Kutschen er heimlich überprüft hatte in der Hoffnung, ein junges Gesicht mit blaugrünen Augen, rotgoldenen Locken und zwei entzückenden Grübchen in den Wangen zu sehen.
Während die Kutsche zum Stehen kam, gab er sich den Anschein, ein neugieriger Passant zu sein und spähte ins Innere.
Vermutlich würde er nur wieder eine respektable schottische Matrone vorfinden auf der Heimreise von einem Besuch bei ihrer Tochter in England, oder einen Geschäftsmann, der in eine der Hafenstädte an der Grenze unterwegs war.
Unverhofft sah er den Rücken einer jungen Frau, die auf den Knien eines Mannes saß. Das Paar hielt sich in einer leidenschaftlichen Umarmung umschlungen. Hawthorns Taktgefühl trieb ihm die Schamröte ins Gesicht und ließ ihn den Blick abwenden.
Wie so oft an diesem Morgen warf der Bursche dem Kut scher eine Münze zu und wollte ihn schon weiterwinken.
Doch dann stutzte Hawthorn. Er entsann sich, dass Ivy ihm einen neuen Hut vorgeführt hatte, den ihr wohlhabender Schwager ihr geschenkt hatte. Er achtete für gewöhnlich nicht auf modischen Firlefanz, nun aber fiel ihm auf, dass Ivys Hut große Ähnlichkeit mit dem der Dame auf dem Schoß des jungen Mannes in der Kutsche aufwies.
Er wagte einen zweiten Blick.
Diesmal lag der Arm ihres Begleiters nicht mehr um den Nacken der Dame. Unter der Hutkrempe quollen rotblonde Locken hervor. In seinem Schreck, die beiden um Haaresbreite nicht erkannt zu haben, riss Hawthorn den Wagenschlag heftiger auf, als nötig gewesen wäre.
Und aus seiner Begrüßung für seine verloren geglaubte Schwester wurde ein schroffer Befehl.
„Nehmen Sie die Hände von meiner Schwester, Mr. Armitage!“
Die verblüfften Gesichter, die sich ihm zuwandten, entschädigten Hawthorn beinahe für all die Sorgen und Anstrengungen der letzten Tage.
„Hawthorn!“ Die kleine Hexe besaß die Frechheit, ihn entrüstet anzufunkeln, als habe er sich etwas zuschulden kommen lassen. „Was machst du denn hier?“
Zu Ivys Glück neigte ihr Bruder nicht zu Jähzorn, sonst hätte er sie auf der Stelle übers Knie gelegt und ihr den Hintern versohlt.
„Rede nicht, als hättest du keine Ahnung.“ Er gab sich damit zufrieden, sie am Arm aus der Kutsche zu ziehen. Alle Ängste, die er in den letzten Tagen um sie ausgestanden hatte, stiegen mit einem Mal wieder in ihm hoch. „Offenbar legst du es darauf an, dass mir vor Kummer und Sorgen vorzeitig graue Haare wachsen.“
Sein gerechter Zorn verfehlte seine Wirkung nicht, und Ivy senkte beschämt den Blick. Ihr hübsches Kinn begann zu zittern und Hawthorn fürchtete, sie würde jeden Moment in Tränen ausbrechen.
„Bitte machen Sie Ihrer Schwester keine Vorwürfe, Mr. Greenwood“, bat eine höfliche junge Männerstimme.
Oliver Armitage zwängte seine schlaksigen langen Gliedmaßen aus der Kutsche und legte seine Hände in einer rührend beschützenden Geste auf Ivys Schultern. „Die Schuld liegt ausschließlich bei mir.“
Der junge Mann hätte keine treffenderen Worte finden können, um Eindruck bei Hawthorn zu machen, vermochte damit aber nicht seinen Unmut zu dämpfen. Die beiden mussten begreifen, wie viel Kummer sie Felicity und ihm mit ihrer Torheit bereitet hatten.
„Meine Vorwürfe richten sich auch gegen Sie, Armitage.“ Er bedachte den jungen Mann mit einem strengen Blick, dem Oliver unverwandt standhielt. „Mit Ihnen rechne ich später ab, verlassen Sie sich darauf.“
Finster flog sein Blick zwischen Ivy und Oliver hin und her. „Meiner Schwester traue ich jede Unbesonnenheit zu, aber von Ihnen hätte ich mehr Vernunft erwartet.“
Ivy vergaß ihr schlechtes Gewissen, entwand sich dem Griff ihres Bruders, hob eigensinnig das Kinn und funkelte ihn wütend an.
„Ich lasse nicht zu, dass du in diesem Ton mit meinem Verlobten sprichst, Hawthorn. Bitte entschuldige dich!“
Welche Frechheit! Erst zwang ihn diese vorlaute Göre dazu, hunderte Meilen hinter ihr herzujagen, und nun tat sie auch noch so, als habe er kein Recht, wütend auf sie zu sein.
„Armitage ist nicht dein Verlobter“, knurrte er, „und ich rede mit ihm, wie ich es für richtig halte …“
Plötzlich bemerkte er die neugierigen Blicke, die den hitzigen Wortwechsel verfolgten. Um nicht noch mehr Aufsehen zu
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