Entscheidung in Gretna Green
Schneise durch den uralten Inglewood Forest schnitten.
Zu beiden Seiten der Straße säumten niedrige Mauern aus grauen Natursteinen die winzigen Felder der Bauern. Gelegentlich fuhren sie durch Dörfer mit weiß getünchten strohgedeckten Katen, die sich um eine Kirche drängten. Weit im Osten erstreckte sich der krumme graue Bergrücken der Pennines, die das Rückgrat von England bildeten.
In der vergangenen Nacht hatte sie nichts von der Landschaft gesehen, als sie mit Hawthorn die letzte Wegstrecke nach Carlisle zurückgelegt hatte. Der Blick auf die idyllische Landschaft beruhigte sie und glättete allmählich die Wogen ihres Zornes.
Es war so still und leer in der Kutsche ohne Hawthorns Anwesenheit.
Dabei war er gar kein besonders unterhaltsamer Gesellschafter, jedenfalls hatte er nicht die Ausstrahlung wie sein weltgewandter, charmanter Freund Weston St. Just. Hawthorn Greenwoods Wesen ließ sich eher mit der Landschaft von Cumberland vergleichen. Ruhig, beständig, anspruchslos in seiner Verlässlichkeit und unbeirrbaren Gelassenheit. So hatte Felicity ihn jedenfalls bisher gesehen.
Wie konnte sie ihn nur so falsch beurteilt haben.
Hatte sie sich wirklich so schrecklich in ihm geirrt?
In den einsamen Stunden der langen Fahrt konnte sie sich nicht länger vor der Wahrheit verstecken. Vielleicht hatte sie sein Wesen während der langen Reise nach Norden gar nicht falsch eingeschätzt. Möglicherweise hatte sie nur ein falsches Urteil über ihn gefällt, als ihre alten Ängste über sie hereingebrochen waren. In den Momenten des Grauens, wenn Argwohn und Bitterkeit der vergangenen Jahre die zarte Knospe ihres Vertrauens zu ihm erstickt hatten.
Obwohl niemand sie sehen konnte, barg Felicity das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern wurden von trockenem Schluchzen geschüttelt. Lange fand sie keine Erleichterung, bis ihr endlich ein erlösender Tränenfluss Besänftigung brachte.
Immer hatte sie geglaubt, es gäbe nichts Schlimmeres, als von den Menschen unterdrückt und bedroht zu werden, die ihr am nächsten standen. Aber selbst darin hatte sie sich geirrt.
Die Einsicht, dass ihre wenigen guten Eigenschaften sich nicht gegen ihre Fehler behaupten konnten, versetzte ihr einen weit grausameren Schlag. Und nun musste sie mit der bitteren Erkenntnis leben, dass sie ihr eigenes Glück aus blindem selbstsüchtigem Stolz zunichtegemacht hatte.
Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Leib und nahm ihr beinahe den Atem. Zusammengekrümmt hörte sie wie aus der Ferne ihren eigenen spitzen Schrei. Auch Mr. Hixon musste ihn gehört haben, denn die Kutsche wurde langsamer und hielt jäh an.
Der Wagenschlag wurde aufgerissen, und der junge Lakai äugte ins Innere. „Was ist geschehen, Lady Lyte?“
Der Schmerz ließ nach, aber Felicity fühlte sich schwach und zittrig.
„Nichts von Bedeutung, Ned“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen und sich den Anschein zu geben, als fehle ihr nichts.
Sie durfte jetzt nicht krank werden. Nicht so weit entfernt von Trentwell, ohne Pflege, nur auf zwei Diener angewiesen – noch dazu unbeholfene Männer. „Sobald wir Trentwell erreichen, bin ich wieder wohlauf. Mach dir keine Sorgen und sage Mr. Hixon, er solle weiterfahren.“
Der Bursche gehorchte ihrem Befehl allerdings nicht augenblicklich, wie Lady Lyte es von ihrem Personal gewohnt war. „Verzeihen Sie, Mylady, aber Sie sehen nicht gut aus.“
„Kein Wunder“, entgegnete sie etwas gereizt. Eine nächste Schmerzwelle krampfte ihren Leib zusammen. „Du auch nicht, ehrlich gesagt. Wie denn auch, nach der langen Fahrt. Hör auf mich zu belästigen und sage Mr. Hixon, er solle weiterfahren.“
Als Ned immer noch unschlüssig zögerte und sie ängstlich musterte, schrie sie ihn an: „Geh endlich!“
Bevor er gehorchen konnte, krümmte sie sich erneut vor Schmerz zusammen. Um nicht noch einmal aufzuschreien, biss Felicity sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte.
Zu ihrer Erleichterung schlug Ned die Tür zu und die Kutsche rollte wieder an.
Allerdings dauerte die Fahrt nicht lange.
Der Schmerz war zu einem dumpfen Ziehen abgeflaut, als die Kutsche an einem roten Ziegelhaus vorfuhr.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie schroff mit aufeinandergebissenen Zähnen, als die Männer den Wagenschlag öffneten.
Ned hielt den Blick zu Boden gerichtet, als hoffe er, die Antwort auf die Frage seiner Herrin auf seinen Stiefelspitzen zu finden. „Es geht Ihnen nicht gut, Mylady. Sie brauchen Ruhe
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