ENTSEELT
seinem Wirt zur Reife heranwächst, steigern sich die Stärke und die Ausdauer des Wirtes um ein Vielfaches. Und auch seine Leidenschaften. Bis auf die Liebe, die für die Wamphyri ein unverständliches Konzept darstellt, werden alle anderen Leidenschaften zu einer Manie. Hass, Lust, Kampfgier, der Drang zum Morden und zum Quälen, der Drang, den Meister oder den Gegner zu vernichten. Aber diese bösartigen Züge werden durch den Drang des Vampirs zur Geheimniskrämerei, zur Anonymität, in Schach gehalten. Denn er weiß, wenn er enttarnt ist, werden die Menschen nicht rasten und ruhen, bis sie ihn vernichtet haben. Das gilt natürlich in erster Linie für diese Welt, denn in ihrer eigenen Welt sind sie – oder waren sie – die Herrscher. Sie waren es, bis der Herr des Gartens und ich ihrer Herrschaft ein Ende gesetzt haben. Aber schon vorher hatte es Traveller-Sippen gegeben, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, sie zu töten, wann immer sich eine Chance dafür bot. Mein Sohn und ich ... wir haben sie nicht alle vernichtet. Manchmal wünsche ich, wir hätten das getan.
Also ... wann sind sie zuerst hierher gekommen, wie und wo sind sie angekommen? Die Ersten auf dieser Welt? Wer weiß das schon? In allen menschlichen Mythologien kommen Vampire vor. Die Frage nach dem ›wo‹ lässt sich viel leichter beantworten: im antiken Dakien, in Romania, in Moldova, in der Walachei. Was alles das Gleiche ist: Rumänien, im Donaugebiet. Es gibt dort ein Tor, einen Tunnel zwischen den Dimensionen, aber glücklicherweise ist er unzugänglich. Oder beinahe unzugänglich. Ich bin durch dieses Tor nach Starside gekommen, aber das war, bevor Harry junior mir meine Fähigkeiten genommen hat.«
Harry lehnte sich zurück und seufzte. Die Zeit und die Ereignisse hatten ihn wieder eingeholt. Er wirkte jetzt sehr müde, fragte aber trotzdem: »Was wollt ihr noch wissen?«
Auch wenn es ein düsteres Thema war, konnte Sandra doch nicht genug davon bekommen. »Was ist mit ihrer Lebensspanne, ihrer Langlebigkeit? Als ich die Akten im E-Dezernat gelesen habe, erschien das alles so fantastisch! Und du sagst, sie kommen aus den Sümpfen. Aber was war vorher? Wie sind sie dahingekommen?«
»Das ist so wie die alte Frage nach dem, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. Sie leben nun einmal in den Sümpfen, mehr kann ich dazu nicht sagen. Warum gibt es die Aborigines in Australien? Warum gibt es Komodo-Warane nur auf den Galapagos-Inseln?
Was die Lebensspanne angeht: Sie beginnen ihr Leben in den Sümpfen als große Egel. So habe ich das jedenfalls verstanden. Sie wechseln von da zu Menschen oder Tieren über, meistens zu Wölfen. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass der Werwolf der Legende eigentlich ein Vampir ist. Was spricht dagegen? Er lebt von rohem, blutigem Fleisch, und mit seinem Biss kann er einen neuen Werwolf erzeugen, oder? Natürlich, denn dieser Biss ist die Übertragung des Eis, das den genetischen Code sowohl für den Wolf als auch für den Vampir enthält.«
Plötzlich wurde Harrys düstere Miene noch um ein paar Grade finsterer. »Ach Gott!«, flüsterte er und schüttelte ungläubig den Kopf. »Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, muss ich an meinen Sohn denken. Und ich frage mich, wo er jetzt ist. Ist er immer noch auf Starside, immer noch ein Lord der Vampire? Und was ist er jetzt, dieses Kind von Brenda und mir? Denn Harrys Vampir wurde auch von einem Wolf auf ihn übertragen.«
Seine Augen wurden feucht, und sein Blick verlor sich in der Ferne. Aber dann blinzelte er, raffte sich auf und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.
»Wir waren bei ihrem Lebenszyklus. Ich habe beschrieben, wie sie von einem Sumpfegel zu einem Parasiten in einem menschlichen oder tierischen Wirt werden. Sie gehen also eine Symbiose ein, und damit ist auf beiden Seiten ein Geben und Nehmen verbunden. Der Parasit bekommt seinen Wirt und lernt durch den Verstand dieses Wirtes. Und der Wirt bekommt die Regenerationsfähigkeit des Vampirs, sein Protofleisch, seine Überlebenskunst und natürlich auch seine Langlebigkeit. Im Endeffekt verschmilzt der Vampir mit dem Innenleben des Wirtes; er wird zu einem Teil davon. Die beiden sind dann untrennbar. Sogar die Gehirne wachsen langsam zusammen und werden eins. Aber im Frühstadium behält der Vampir noch eine gewisse Eigenständigkeit. Wenn ein junger Vampir eine enorme, unabwendbare Gefahr für seinen Wirt verspürt, kann es sogar vorkommen, dass er versucht, sich von ihm zu
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