ENTSEELT
sehen, oder zumindest sah er einen Teil davon. Aber in dieser Sache waren unsere Fähigkeiten mehr oder weniger auf gleicher Höhe, sonst hätte ich ihn nie überraschen können. Die Zukunft, die er sah, war verschwommen und weit entfernt, wie die Erinnerung an eine Geschichte, die im Laufe der Zeit verblasst ist.
Aber kommen wir jetzt wieder zu jener Nacht zurück.
Ich sagte bereits, dass meine Instinkte in dieser Nacht schärfer waren als in den vergangenen zwanzig Jahren. Das waren sie wirklich, und als ich durch das Schloss lief, bemerkte ich, dass die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten. Ich formte die platte Schnauze einer Fledermaus, um die Luft im Schloss zu schnüffeln; es war kein Feind da, und es schien auch keine physische Gefahr für mich zu bestehen, aber irgendetwas war seltsam. Ich schritt mit mehr Vorsicht voran, bewegte mich lautlos wie ein Schatten und machte mich mit meiner Willenskraft unsichtbar. Aber das war unnötig; Janos war zu ... beschäftigt – dieses Schwein! – und seine Mutter zu benommen, um zu wissen, was er tat, außer wenn er ihr einen direkten Befehl gab.
Wieder eile ich den Ereignissen voraus.
Ich wusste nicht, dass er es war, nicht sofort. Ich dachte sogar, der Mann müsse ein Szgany sein, und war verblüfft! Ein Zigeuner? Einer meiner Leute, mitten in der Nacht im Schlafzimmer meiner Frau? Das musste ein wahrhaft furchtloser Mann sein. Ich musste ihm nachher meine Anerkennung für seinen Mut aussprechen, während ich ihn mit seinen eigenen Eingeweiden erwürgte.
Das waren meine Gedanken, als meine Wamphyri-Sinne mir beim Betreten der Gemächer meiner Frau verrieten, dass sie nicht allein war. Daraufhin musste ich all meine Kraft einsetzen, damit sich die Zähne in meinen Kiefern nicht in messerscharfe Sicheln verwandelten und meinen Gaumen zerfleischten. Ich fühlte, wie sich die Nägel meiner Finger unwillkürlich zu Chitin-Messern verlängerten, auch das war eine Reaktion, die ich nur schwerlich unter Kontrolle halten konnte.
Das Gemach hatte eine Außentür, einen kleinen Vorraum, und eine zweite Tür, die in das eigentliche Schlafzimmer führte. Vorsichtig, lautlos, näherte ich mich der Außentür und stellte fest, dass sie verschlossen war. Diese Tür war nie verschlossen gewesen, seit sie zu mir gekommen war. Meine schlimmsten Befürchtungen waren jetzt voll angefacht, genauso wie mein heißes Blut. Sicher, ich könnte die Tür eintreten, aber wenn ich so über sie kommen würde, würde ich die Überraschung zu schnell preisgeben. Und ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Keine Beteuerungen, seien sie gestammelt, gekreischt oder in blutigem Würgen herausgehustet, können ein Bild wieder auslöschen, das sich einmal in die Netzhaut gebrannt hat.
Ich ging auf einen Balkon hinaus, formte meine Hände und Unterarme zu runden Tellern wie die Saugnäpfe eines grotesken Oktopus und machte mich auf den Weg zu Marilenas Fenster. Das Fenster war groß, mit einem gotischen Bogen und in eine anderthalb Meter dicke Wand eingelassen. Die Vorhänge waren geschlossen. Ich kletterte hinein und schlich mich zu den Vorhängen, die ich einen Spalt auseinanderzog. Im Inneren des Gemachs erzeugte ein schwimmender Docht in einem Ölgefäß genügend Licht. Nicht dass ich das gebraucht hätte, denn ich konnte im Dunkeln so gut sehen wie andere Männer im hellen Tageslicht, vielleicht sogar besser.
Was ich sah war dies: Marilena, nackt wie eine Hure, lag flach auf dem Rücken auf einem Holztisch. Ihre Beine waren um einen Mann geschlungen, der aufrecht stand und sich zwischen ihren Schenkeln abmühte. Seine Hinterbacken waren durch die Anstrengung wie Fäuste geballt, während er in sie hineinstieß, als wollte er einen Keil hineintreiben, einen dicken Keil aus Fleisch. Nur noch ein Augenblick, und ich würde ihm diesen Keil in die Kehle rammen.
Und dann, durch das Hämmern meines Blutes und das wahnsinnige Pochen in meinem Schädel und das Wüten meiner aufgebrachten Gefühle, hörte ich ihre Stimme keuchen: »Oh Faethor – mehr, mehr! Stoße mich, mein geliebter Vampir, so wie nur du es kannst!«
Halt! Gib mir einen Moment ... die Erinnerung regt mich auch heute noch auf, obwohl ich jetzt nur noch eine Stimme von jenseits des Grabes bin ... lass mich einen Moment innehalten und erklären.
Es fällt mir auf, dass ich wenig über mich in den zwanzig Jahren mit Marilena und ihrem unehelichen Sohn erzählt habe. Das werde ich jetzt tun, mich aber kurz fassen.
Die Tatsache,
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