ENTSEELT
Hinsicht Anziehendes an einer vernarbten, uralten untoten Gestalt wie mir finden konnte, einem brutalen und grausamen Wesen voller Schrecken? Es würde mich überraschen, wenn du dich das nicht fragen würdest. Und du erinnerst dich zweifellos auch daran, was du über die hypnotischen Fähigkeiten eines Vampirs weißt, und wahrscheinlich glaubst du, das Rätsel gelöst zu haben. Du denkst: »Sie war sein Spielzeug und sie tat das alles nicht aus freiem Willen!« Nun, ich will gar kein Geheimnis daraus machen: Vor Marilena war das immer so gewesen. Aber mit ihr war es anders!
Zunächst einmal sah ich nicht so grausig aus, wie du vielleicht glaubst. Als Wamphyri sah man mir meine Jahrhunderte nicht sofort an, außer vielleicht manchmal in meinen Augen oder wenn ich wollte, dass man sie sah. Ich konnte jederzeit so alt oder so jung erscheinen, wie es mir gerade beliebte, und in Marilenas Fall war das immer jung, nie mehr als vierzig. Auch ohne meinen Vampir war ich groß und stark, und ich verfügte über den Charme, den Witz, die Weisheit – und die Dummheit –, die ich in Jahrhunderten angesammelt hatte, und konnte diese Eigenschaften bei Bedarf einsetzen. Vernarbt? Ja, das war ich, das ließ sich nicht übersehen. Aber ich hatte diese Schmisse aus Eitelkeit beibehalten. Es gefiel mir, die Zeichen alter Schlachten mit mir herumzutragen und mich an den zu erinnern, der sie mir zugefügt hatte. Ich hätte sie durch den Vampir in mir zur Gänze verschwinden lassen können, aber solange Thibor lebte, würde ich das nicht tun. Nein, diese Narben waren wie Stachel in meinem Fleisch, die mich vorantreiben würden, wenn mein Hass einmal nachlassen sollte.
Falls du daran zweifelst, dass ich so attraktiv war, dann brauchst du dich nur an Ladislau Girescis Beschreibung zu erinnern, so wie er mich erlebte in der Nacht, als er mir den Kopf nahm. Erinnerst du dich? Trotz meines Alters war ich immer noch sehr ansehnlich, nicht wahr? Entschuldigung, das ist meine Eitelkeit. Die Wamphyri waren schon immer eitel.
Ich muss auch um Verzeihung bitten, dass ich so lange über Marilena geredet habe, aber ... es machte mir Freude, das zu tun. Denn wer ist da schon, mit dem ich solche Erinnerungen teilen könnte? Niemand außer einem Necroscope kann davon wissen.
Du weißt bereits, dass ich der Vater von Janos bin; mittlerweile wirst du auch erraten haben, dass Marilena seine Mutter ist. Er war der Sohn meines Blutes, geboren aus der Liebe und der Lust zwischen einem Mann und einer Frau, geboren aus der feurigen Verschmelzung des Blutes und der Übertragung eines einzelnen Lebensfunkens vom einen zum anderen, der ihr Ei durchstieß und dem Fötus darin das Leben gab. Der Sohn meines Blutes, ja, mein natürlicher Sohn, der nichts von dem Vampir in sich hatte. So sollte es sein. Ich wusste nicht, ob es möglich war, aber ich wollte es trotzdem versuchen. Ich wollte Leben in diese Welt setzen, das nicht dem Wamphyri-Einfluss ausgesetzt war. Ich wollte es für Marilena tun. Sie sollte eine ganz normale Mutter sein.
Und wenn mir das nicht gelänge und das Kind doch zu einem Vampir würde?
Nun, auch dann wäre er immer noch mein Sohn. Und ich würde ihn in den Sitten der Wamphyri unterrichten, und wenn ich dann in die Welt zurückging, würde er zurückbleiben und mein Schloss und meine Berge vor allen Feinden schützen.
Was? Ach, du erinnerst dich, dass ich in früheren Zeiten die gleichen Hoffnungen in einen undankbaren Walachen namens Thibor gesetzt hatte? Ich vermute, das liegt in der Natur aller großen Männer: Sie versuchen es wieder und wieder und denken nie darüber nach, welche Kosten ihr Streben nach Vollkommenheit mit sich bringt. Bis auf die Tatsache – und das habe ich ja schon gesagt –, dass ich Scheitern nie gut wegstecken konnte.
Als Janos geboren wurde, schien er ganz normal. Er war ein uneheliches Kind, was seinen Großvater Grigor ein wenig kränkte, mir aber gar nichts bedeutete. Er besaß nur vier Finger an seinen Händen, so wie Marilena und Grigor vor ihm, aber dies war nur eine Laune der Natur, ein genetischer Defekt, der auf ihn übergegangen war, und kein böses Omen.
Aber als er dann aufwuchs, wurde deutlich, dass ich versagt hatte. Mein Sperma, das ich mit Willenskraft vom purpurnen Einfluss frei halten wollte, war vergiftet, wenn auch nur schwach. Es war bestenfalls ein törichtes Experiment gewesen: Kann ein Adler einen Spatz zeugen oder der graue Wolf ein quiekendes rosa Ferkel? Wie viel schwieriger ist
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