ENTSEELT
Meer‹. Dieser Vampir ist ziemlich heimatverbunden, was?«
Harry nickte. »Ich schätze, das ist Zufall. Es ist zwar seltsam, aber wohl doch ein Zufall. Ansonsten stimme ich mit dem überein, was du gesagt hast. Donnerstagabend sollten wir dann die Verstärkung aus dem E-Dezernat hier haben. Freitag ist immer noch früh genug, um sich diese moderne Ausgabe einer Vampirfeste anzusehen.«
Das blutige Steak ohne alle Beilagen, das Harry bestellt hatte, musste mittlerweile kalt sein. Er hatte es noch nicht angerührt, und die anderen waren inzwischen längst mit dem Essen fertig. Er zuckte mit den Achseln und aß es trotzdem. Er hatte schon lange kein so rohes, blutiges Fleisch mehr gegessen. Und auch der tiefrote Wein schmeckte ihm vorzüglich. Er dachte trocken: Man muss sich dem Gegner anpassen, wenn man ihn besiegen will! Vielleicht hatte Manolis doch recht, und er war einfach nur eiskalt ...
Im Hotel wartete eine Nachricht auf sie: Eine Schwester aus der psychiatrischen Anstalt bat darum, von Kommissar Papastamos zurückgerufen zu werden. Manolis tat dies sofort. Er sprach am Telefon mit seinem üblichen stakkatoartigen Griechisch, mit langen Pausen zwischen jedem Wortschwall, während Harry und Darcy zusahen, wie sein Gesicht ein ganzes Spektrum von Emotionen durchlief: von Misstrauen über Unverständnis zu Überraschung, dann Unglauben und schließlich nacktes Entzücken. Er übersetzte ihnen die Botschaft.
»Trevor Jordan geht es sehr viel besser!«, brüllte er sie beinahe an. Ein breites Grinsen spielte auf seinem Gesicht. »Er ist bei Bewusstsein, er redet, und was er sagt, ergibt sogar einen Sinn! Wenigstens war das vorhin so! Er hat normales Essen bekommen, dann haben sie ihm etwas gegeben, damit er die Nacht durchschläft. Aber bevor er eingeschlafen ist, wollte er dich sehen, Harry. Sie sagen, du kannst ihn sofort morgen früh besuchen.«
Darcy und Harry sahen sich verblüfft an. Darcy fragte: »Was hältst du davon?«
Einen Augenblick lang war Harry sprachlos. Er grübelte und kratzte sich am Kinn. »Es könnte vielleicht sein, dass die Entfernung den Einfluss von Janos geschwächt hat, oder? Ich dachte, an seinem Zustand würde sich nichts mehr ändern. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass sein Verstand manipuliert worden ist, so wie meiner – aber vielleicht ist Janos dazu gar nicht in der Lage. Vielleicht ist er nicht so gut. Verdammt, wen interessiert das? Egal, was passiert ist, es hört sich erst mal gut an. Wir müssen nur noch bis zum Morgen warten, dann werden wir es herausfinden.«
DREIZEHNTES KAPITEL
Bevor er sich schlafen legte, versuchte Harry erneut, Möbius zu kontaktieren. Es war sinnlos; seine Rufe reichten hinaus zu Möbius’ Grab in Leipzig, aber es antwortete niemand. Einer der Gründe, warum Harry die Verfolgung von Janos hinausgezögert hatte, war seine Hoffnung (die mehr ein Strohhalm war, an den er sich klammerte) sein Zahlenverständnis zurückzuerhalten – und damit den Zugang zum Möbius-Kontinuum. Aber diese Hoffnung schwand jetzt endgültig dahin.
Er grübelte darüber nach, schlief aber dann doch ein.
Aber das, womit er sich in Gedanken beschäftigte, wurde mit in seine Träume hinübergesogen. Losgelöst von den Nichtigkeiten und Unterbrechungen des Wachzustandes, sandte Harry immer noch seine Gedanken über den großen dunklen Abgrund hinweg, den die Menschen den Tod nennen. Viele der zahllosen Toten in ihren Gräbern hörten ihn und hätten ihm geantwortet oder ihn getröstet, doch das wagten sie nicht. Sie waren alle nicht die Person, die er suchte, und ein Gespräch um seiner selbst willen wäre sinnlos. Sie wussten, dass ihr Trost und auch ihr Zuspruch, auf den er zweifelsohne zählen konnte, ihm schlussendlich doch eher hinderlich wären. Denn der Necroscope hatte noch nie ein Gespräch mit den Toten verweigern können, deren quälende Einsamkeit er als Einziger von allen lebenden Menschen verstehen konnte.
Aber unter den Toten gab es eine, die ihn mehr liebte als all die anderen und doch weniger Ehrfurcht vor ihm hatte. Sie hatte ihn schon bei vielen Gelegenheiten getadelt. Mütter sind nun einmal so.
Harry? Ihre Totenstimme rührte ihn an. Harry, kannst du mich hören?
Er seufzte und gab seine Suche nach Möbius auf. In ihrem Tonfall war etwas, das seine Aufmerksamkeit forderte. Was ist los, Mutter?
Was los ist? Vor seinem geistigen Auge konnte er ihr missbilligendes Stirnrunzeln sehen. Redet man so mit seiner Mutter, Harry?
Mutter , seufzte er
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