ENTSEELT
Arbeiter statt der Herumtreiber, die sie gewesen waren.«
»Herumtreiber? Das glaubst du?«
»Ich nicht, aber die Behörden. Meine Eltern bekamen eine Wohnung in Craiova zugewiesen, direkt an der neuen Eisenbahn. Der Beton war brüchig und durch das Gerüttel der Züge marode, der Putz fiel von den Wänden, die Toilette von einem der Bewohner über uns tropfte durch die Decke, aber für arbeitsscheue Herumtreiber sei die Wohnung gut genug, hieß es. Und da, an den Bahngleisen, habe ich dann gespielt, bis ich elf Jahre alt war. Und dann ist eines Nachts ein Zug entgleist. Er raste direkt in unser Reihenhaus und hat eine Wand weggerissen. Da ist das ganze Gebäude eingestürzt. Ich hatte Glück und habe überlebt, aber meine Eltern kamen beide um. Eine Zeit lang habe ich geglaubt, ich wäre besser auch gestorben – mein Rückgrat war gebrochen, und ich saß im Rollstuhl. Aber irgendjemand hatte von mir gehört und damals gab es da ein Projekt, einen Austausch von Ärzten und Patienten zwischen amerikanischen und russischen Kliniken, und weil ich ein Waisenkind war, wurde ich vorrangig behandelt. Gar nicht schlecht für einen Herumtreiber, nicht wahr? Ich kam also in die USA. Und da haben sie mich wieder hingekriegt. Ich wurde sogar adoptiert. Von einem amerikanischen Ehepaar. Und weil ich nur ein kleiner Junge war und weil es hier niemanden mehr gab, durfte ich bleiben.«
»Aha!«, meinte Gogosu. »Und jetzt bist du Amerikaner. Na ja, ich glaube dir mal ... aber es ist schon ungewöhnlich für Zigeuner, wenn sie die Straße verlassen. Manchmal werden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und gehen ihrer eigenen Wege – Streitereien in den Lagern oder so, meistens wegen einer Frau oder einem Pferd –, aber sie lassen sich selten in der Stadt nieder. Was war mit deiner Familie los? Sind sie dem Zigeunerkönig auf den Schlips getreten, oder was?«
»Ich weiß es nicht. Ich war damals ja nur ein kleiner Junge. Vielleicht hatten sie einfach Angst um mich. Ich war wohl klein und schwach, etwas mickrig geraten. Auf jeden Fall sind sie in der Nacht aus dem Lager verschwunden, als ich geboren wurde. Sie haben ihre Spuren verwischt und sind nie zurückgekehrt.«
»Etwas mickrig?« Gogosu hob eine Augenbraue und musterte Vulpe noch einmal von oben bis unten. »Na, heutzutage kann man das nicht mehr behaupten. Aber du sagst, sie haben ihre Spuren verwischt? Da hast du’s! Ist doch ganz klar: Es hat im Lager Ärger gegeben, ganz sicher. Ich wette, deine Eltern waren heimlich zusammen, obwohl sie einem anderen versprochen war. Und dann kamst du, und er ist mit ihr durchgebrannt. So was kommt vor.«
»Das ist eine sehr romantische Sichtweise«, meinte Vulpe. »Aber wer weiß, vielleicht stimmt das sogar.«
»Mein Gott, wie unhöflich«, brach Gogosu plötzlich heraus und winkte dem Wirt. »Da sitzen wir beiden hier und plaudern in deiner Muttersprache, und deine beiden Freunde sitzen ganz verwirrt da und sind völlig ausgeschlossen. Lasst mich euch eine Runde ausgeben, und dann können wir uns ordentlich vorstellen. Ich will wissen, warum ihr hier seid und was ich für euch tun kann, und wie viel ihr mir zahlt, wenn ich euch zu ein paar richtig alten Gemäuern bringe.«
»Die Rechnung geht auf uns«, sagte Vulpe. »Keine Widerrede! Gott, glaubst du ernsthaft, wir könnten mit dir mithalten, Emil Gogosu? Lass es ein bisschen langsamer angehen, oder wir liegen alle unter dem Tisch, bevor die Sache ausdiskutiert ist. Was das Vorstellen angeht, das lässt sich leicht bewerkstelligen.«
Er klopfte dem Amerikaner neben sich auf die Schulter: »Dieser große Klotz hier ist Seth Armstrong aus Texas. Wie du sehen kannst, Emil, wird da im Großformat produziert. Aber schließlich ist es auch ein großes Land. Ganz Rumänien könnte man da dreimal hineinpacken.«
Gogosu war angemessen beeindruckt. Er schüttelte Armstrong die Hand und sah ihn sich genauer an. Der Texaner war groß und hatte einen kräftigen Knochenbau. Er hatte ehrliche blaue Augen und ein offenes Gesicht, dünnes, strohblondes Haar und Arme und Beine von der Dicke und Länge von Mastbäumen. Seine Nase ragte über einem breiten, ausdrucksstarken Mund hervor, und sein Brustkorb war gewaltig und stark behaart. Er war fast zwei Meter groß, selbst sitzend überragte er seine Gefährten bei Weitem.
»Ja«, brummte der Jäger. »Dieses Texas muss groß ein, wenn es solche Leute hervorbringt.«
Vulpe übersetzte und nickte dann zu dem dritten Mitglied der Gruppe
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