ENTSEELT
der Mann sehr viel wusste.
Er war ein Mentalist, oder ein »Telepath«, wie man das heutzutage nannte. Janos hatte den Gedankendieb ertappt, wie er ihn belauscht oder zumindest den Drogendeal ausspioniert hatte, an dem Janos beteiligt war. Wie viel hatte er wohl vor seiner Entdeckung in Erfahrung gebracht? Auf jeden Fall genug, um ihm gefährlich zu werden. Denn in dem Augenblick, als er zusammengebrochen war, hatte Janos deutlich gespürt, dass der Mann über seine Natur Bescheid wusste, und das durfte nicht sein. Was würde passieren, wenn er in dieser modernen Welt als Vampir entlarvt würde? Sicher, die meisten würden das mit einem Lachen abtun – aber eben nicht alle. Dieser Mentalist zum Beispiel nicht. Und es gab Hinweise in seinen Gedanken, dass er noch andere kannte, die das auch ernst nehmen würden. Einen ganzen Haufen davon.
Janos entdeckte eine Welle verängstigter Gedanken und folgte ihr zu ihrem Ursprung. Er kannte den Geruch. Es war ein Verstand, dem er schon einmal begegnet war, vor kurzer Zeit, und den er jetzt wie ein vertrautes Gesicht zuordnen konnte. Die Gedanken waren verängstigt, schreckerfüllt, der Verstand gewaltsam gebrochen und unterjocht worden, aber jetzt erholte er sich und das Bewusstsein kehrte allmählich zurück. Janos folgte den Gedanken wie ein Bluthund, und als er sich Zugang zu dem schaudernden Verstand verschaffte, wusste er sofort, dass er sich nicht geirrt und seine Zielperson gefunden hatte.
Ken Layard wich nicht von Trevor Jordans Bettkante, während der in seinem Hotelzimmer wie ein Toter schlief. Sie hatten Einzelzimmer direkt nebeneinander auf dem gleichen Flur. Der Telepath lag jetzt bereits seit zwölf Stunden da; sechs davon unter dem Einfluss eines starken Beruhigungsmittels, das ihm ein griechischer Arzt verabreicht hatte, reglos wie eine Leiche, vier weitere in einem Zustand, den man mit Tiefschlaf vergleichen konnte, und den Rest der Zeit sehr unruhig. Er warf sich hin und her, stöhnte und schwitzte im Griff des Albtraums, der ihn offenbar gepackt hielt. Layard hatte ein- oder zweimal versucht, ihn zu wecken, aber sein Freund war noch nicht so weit gewesen. Der Arzt hatte gesagt, er werde von selbst zu gegebener Zeit aus seinem Koma aufwachen.
Was diesen Zustand ausgelöst hatte, war ungewiss. Nach Meinung des Arztes konnte fast alles dafür verantwortlich sein. Zu viel Sonne, Stress, der Alkohol, vielleicht auch ein Virus, den er sich eingefangen hatte. Oder ein schwerer Migräneanfall, auf jeden Fall nichts, worüber man sich Sorgen machen musste. Die Touristen klappten immer aus irgendwelchen nichtigen Gründen zusammen.
Layard wollte gerade von seinem Stuhl aufstehen, da hörte er seinen Freund reden: »Was? Ja – ja – das werde ich.« Er drehte sich um und sah zu Jordan, der sich mit unnatürlich aufgerissenen Augen in eine sitzende Position hochschob.
Auf dem Nachttischchen stand ein Krug mit Wasser. Layard füllte ein Glas und hielt es Jordan hin. Der reagierte nicht. Mit starrem Blick schob er seine Beine aus dem Bett und griff nach seinen Kleidern, die über einem Stuhl zusammengefaltet lagen. Der Lokalisierer überlegte, ob sein Freund schlafwandelte.
»Trevor?«, fragte er sanft und nahm Jordans Arm. »Ist mit dir ...?«
»Was?« Jordan drehte sich zu ihm um, blinzelte heftig und sah ihn plötzlich direkt an. Seine Augen leuchteten, und Layard war sich sicher, dass er bei vollem Bewusstsein war und ihn verstehen konnte. »Ja, mir geht es gut. Aber ...«
»Was aber?« Layard versuchte, das Gespräch weiterzuführen, während Jordan sich anzog. Er bewegte sich starr wie ein Roboter.
Das Telefon klingelte. Jordan war weiter mit Ankleiden beschäftigt, und Layard hob ab. Am anderen Ende war Manolis Papastamos, der wissen wollte, wie es Jordan gehe. Der griechische Polizist war nur wenige Sekunden nach Jordans Zusammenbruch an der Hafenmauer aufgetaucht. Er hatte Layard geholfen, den Telepathen ins Hotel zurückzubringen und dann den Arzt gerufen.
»Trevor geht es gut«, antwortete Layard. »Wenigstens glaube ich das. Er zieht sich gerade an. Und was ist bei euch los?«
Papastamos sprach englisch genauso, wie er auch griechisch sprach: rasend schnell. »Wir observieren die Boote – beide. Aber bisher ohne Ergebnis. Wenn Stoff von der Samothraki entladen worden ist, dann nur geringe Mengen, und bestimmt keine harten Drogen. Aber das haben wir ja erwartet. Ich habe auch die Lazarus überprüfen lassen. Es ist unwahrscheinlich, dass es da
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