ENTSEELT
»Ich brauche nur sehr wenig ... davon.«
Seine Stimme war eine Überraschung für sie: Es war ein Knurren, ein Grollen, das sie im Innersten erbeben ließ. Der Klang war nicht unangenehm, doch es lag so viel Kraft darin, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Aber während sie vor ihm zurückwich, lächelte er, wenn auch kühl, und deutete auf die Flasche. »Sie haben also Durst?«
War der Mann ein Grieche? Er beherrschte die Sprache, aber er sprach sie wie die Leute in den alten Bergdörfern, wo die moderne Zeit und moderne Sitten noch nicht angekommen waren. Vielleicht stammte er gar nicht aus Griechenland; oder vielleicht hatte er durch Reisen und Bildung und den Aufenthalt in fremden Ländern einen Akzent entwickelt, der ihr fremdartig erschien.
Normalerweise hätte sie gar nicht erst gefragt, aber jetzt tat sie es: »Darf ich?«
»Aber sicher. Wie ich schon sagte, meine wahren Bedürfnisse liegen in anderer Richtung.«
War das ein Wink? Ihm war doch sicherlich klar, womit sie ihr Geld verdiente. Sollte sie ihn durch den Alkoven in ihr abgeteiltes Kämmerchen bitten? Aber dann, während sie ihr Glas füllte, schien er ihre Gedanken gelesen zu haben – was natürlich auch nicht so schwierig war.
»Nein«, sagte er mit einem knappen, aber unmissverständlichen Schütteln seines gewaltigen Kopfes. »Sie müssen jetzt gehen. Es gibt da Dinge, um die ich mich kümmern muss, und gleich kommen ein paar Freunde von mir!«
Sie trank ihr Glas in einem Zug aus. Mit einem Lächeln füllte er es wieder, bevor er wiederholte: »Geh jetzt!«
Und das war definitiv; sie konnte sich dem Befehl nicht widersetzen. Sie kehrte zu ihrer Bank in dem Alkoven zurück. Aber sie konnte ihre Augen nicht mehr von ihm abwenden. Er spürte das, und es schien ihn nicht zu stören. Wenn sie ihm nicht ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt hätte, hätte es ihn beunruhigt.
Aber er musste jetzt zunächst einmal herausfinden, was Armstrong machte. Er verbannte das Mädchen aus seinen Gedanken, und tastete mit seinen Vampirsinnen über den Hafen hinaus zu der Mole, in die Schatten hinein, wo die massiven Mauern aus den spiegelglatten Wassern emporragten. Hier waren keine hellen Lichter mehr, nur Haufen von geflickten Netzen, Fischreusen und die Schwimmtanks und amphorenähnlichen Behältnisse, in denen die Fischer Tintenfische fingen. Und natürlich der treue Armstrong, der auf die Befehle seines Meisters wartete.
Kannst du mich hören, Seth?
»Ich bin hier an Ort und Stelle«, flüsterte Armstrong in die Schatten auf der Mole, als redete er mit sich selbst. Er erwähnte den Hunger nicht, den Janos in seinem Verstand spürte wie einen tief sitzenden Schmerz. Das war gut so, denn die Wünsche des Herren mussten immer an erster Stelle stehen; aber man durfte auch nicht vergessen, einem treuen Hund seinen Knochen zukommen zu lassen. Armstrong würde seine Belohnung später bekommen.
Ich werde jetzt den Mentalisten, diesen Engländer, dazu bewegen, zu dir zu kommen, erklärte Janos kurz . Der andere Engländer wird ihn zweifellos begleiten. Den brauchen wir nicht, der behindert vielleicht sogar meine Pläne. Einer von ihnen kann uns genauso viel verraten wie zwei. Haben wir uns verstanden?
Armstrong verstand sehr gut, und wieder spürte Janos den Hunger in ihm. So stark, dass er diesmal befahl: Du wirst ihn weder zeichnen, noch etwas von ihm nehmen – und du wirst ihm nichts von dir geben! Hast du mich verstanden, Seth?
»Ich habe verstanden.«
Gut! Ich schlage vor, er bekommt einen harten Schlag auf den Schädel und fällt dann da ins Wasser, wo es ziemlich tief ist. Such dir schon mal eine passende Stelle aus, denn wenn alles klappt, werden sie sich umgehend auf den Weg machen.
Ohne weitere Umschweife schickte er dann seine Vampirsinne suchend hinaus zu den hellen Lichtern der Neustadt. Sie streiften durch die Hotels und Tavernen, in und um die Bars, Imbissbuden und Nachtclubs. Es war nicht schwer; die Psychen, die er suchte, hoben sich von den anderen ab, sie besaßen selbst gewisse latente Fähigkeiten. Und einen der Männer kannte er ja bereits, er hatte ihn durchbohrt und beinahe zerstört. Er würde sein Werk vollenden, aber jetzt noch nicht. Dazu war immer noch Zeit, wenn Janos all das wusste, was jetzt noch in diesem Geist verborgen war. Und der eine Blick, den er in diesen Geist geworfen hatte, bevor dieser unter dem Ansturm zusammengebrochen war und sich in die Ohnmacht geflüchtet hatte, hatte ihm verraten, dass
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