ENTSEELT
jenen Zeiten bedeutete eine mit Juwelen besetzte Waffe oder ein Klumpen Gold sofortigen Reichtum. Heute war das zwar auch noch so, aber heute wollten die Leute auch wissen, wo diese Besitztümer herkamen. In alten Zeiten gehörten einem Bojaren seine Ländereien und Besitztümer und die Beute seiner Raubzüge, und niemand stellte Fragen. Sollte doch mal jemand wagen, sich daran zu vergreifen! Aber heute waren Kostbarkeiten wie ein mit Juwelen besetzter Dolch oder eine massiv goldene mazedonische Krone »kulturelle Schätze« und man durfte keinen Handel damit treiben, ohne vorher viel zu viele Fragen über ihren Ursprung beantworten zu müssen.
Natürlich kannte Janos die Quelle seines Reichtums: Sie saß hier an diesem Fensterplatz und sah auf den Hafen des einst mächtigen Inselreiches Rhodos hinaus! Denn der Mann, der diese Schätze jetzt »entdeckte« und ausgrub, war der gleiche, der sie mehr als vierhundert Jahre zuvor vergraben hatte! Wie konnte man besser für eine Wiederkehr in diese Welt vorsorgen, wenn man wusste, dass dazwischen eine lange, lange Zeit absoluter Dunkelheit liegen würde?
Und jetzt ging es darum, diese Schätze zu bergen, diese Werte, die er vor langer Zeit zurückgelegt hatte. Es konnte doch nicht so schwer sein, sie in Immobilienbesitz zu verwandeln, in andere Werte, in das Refugium und den Besitzstand eines Wamphyri-Lords! Ja sicher, eine klassische Wamphyri-Feste war in diesen Zeiten nicht möglich, selbst ein Schloss war zu auffällig ... aber eine Insel? Zum Beispiel im Mittelmeer, wo es so viele davon gab?
Der Plan war so einfach gewesen!
Aber Landschaften verändern sich, die Natur fordert ihren Tribut, Erdbeben grollen und das Land birst, und die Schätze werden weiter verschüttet. Alte Landmarken erodieren oder werden zerstört. Die Kartenzeichner der Renaissance waren bei Weitem nicht so genau wie die heutigen, und selbst ein sehr gutes Gedächtnis – ein hervorragendes Vampirgedächtnis – lässt im Laufe der Jahrhunderte ein wenig nach ...
Janos seufzte und sah aus dem Fenster auf die Hafenlichter und die wie kleine Glühwürmchen über die See verteilten Lichtpunkte hinaus, die die Standorte der Schiffe auf dem offenen Meer anzeigten. Der zwielichtige Wirt war wieder nach unten gegangen, wo er Ouzo und gepanschten Schnaps ausschenkte und seine Einnahmen zählte. Aber die Bouzouki-Musik spielte noch, immer wieder unterbrochen von kreischendem Gelächter, die flirtenden Paare tanzten noch und fummelten aneinander herum, und die junge Hure saß wie zuvor in ihrem Alkoven.
Es musste gegen zehn sein, und Janos hatte gesagt, er werde seinen amerikanischen Adlatus um diese Zeit kontaktieren. Das würde er noch ... bei passender Gelegenheit.
Er schenkte sich selbst ein wenig von dem guten, tiefroten Wein nach und sah zu, wie sein Glas sich mit Blut füllte. Ja, Blut war das Leben – aber nicht an einem Ort wie diesem! Er würde sich erquicken, wenn es so weit war, aber zwischenzeitlich linderte der Wein seinen Durst. Schließlich war das nur der quälende, endlose Durst des Vampirs, den man entweder beherrschen oder für den man töten musste. Zumindest innerhalb gewisser Grenzen sollte man ihn unter Kontrolle haben. Und noch war Janos nicht ausgehungert.
Die Hure hatte das Klirren seines Glases gegen die Flasche gehört. Jetzt sah sie zu ihm herüber. Ihr mürrischer Mund schmollte: Auch sie hatte ein Glas, und das war leer.
Janos spürte den Blick und wandte den Kopf. Über den Raum hinweg bemerkte sie seinen geraden Rücken, den dunklen, attraktiven Teint und die teure Kleidung. Sie war erstaunt über die dunkel getönte Brille, die seine Augen beschirmte. Aber auf diese Entfernung konnte sie nicht sehen, wie derb und grobporig seine Haut war, wie breit und fleischig der Mund, und sie bemerkte auch die überproportionale Länge des Schädels, der Ohren und der vierfingrigen Hände nicht. Von Weitem machte er auf sie den Eindruck eines starken, ruhigen, tiefsinnigen Mannes. Und arm war er ganz bestimmt nicht.
Sie lächelte, wenn auch schief, stand auf und streckte sich, was zu dem gewünschten Ergebnis führte – es betonte ihre spitzen Brüste. Dann kam sie zu Janos’ Fensterplatz herüber. Er beobachtete, wie sie auf ihn zuschwänzelte, und dachte: Aus freiem Willen .
»Werden Sie das alles trinken?«, fragte sie und hob kokett eine Augenbraue. »Alles für Sie ... und so ganz allein?«
»Nein«, sagte er sofort, wobei sein Ausdruck vollkommen neutral blieb.
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