ENTSEELT
dieses ach so wertvolle weiße Pulver sehen!«
»Es ... es ist unten ...« Themelis’ Antwort war ein bloßes Flüstern. Er konnte die Augen nicht vom Gesicht seines Gegenübers abwenden, er wagte es nicht.
»Dann bring mich nach unten!« Aber zuerst wandte er sich noch seinen Männern zu. »Das war gute Arbeit. Ihr könnt jetzt tun, was ihr wollt. Ich weiß, wie hungrig ihr seid.«
Auch unter Deck hörte Themelis noch die Schreie seiner Männer. Er dachte: Christos Nixos war also ein Trottel? Vielleicht, aber wenigstens hatte er das Glück, nicht mehr zu begreifen, was ihn erwischt hat! Und er fragte sich, wie lange es noch dauern werde, bis sich seine eigenen Schreie zu denen seiner Mannschaft gesellen würden.
Vierzig Minuten später erwachten die Dieselmotoren der Lazarus stotternd zum Leben, und das Schiff entfernte sich langsam von der sanft in der Dünung schaukelnden Samothraki . Der Nebel hob sich, die ersten Sterne wurden sichtbar, und in Kürze würde der erste Lichtstrahl des neuen Tages den Horizont erhellen.
Als die Lazarus sich vierhundert Meter weit entfernt hatte, erschütterte eine schwere Explosion die Samothraki. Eine Feuersäule stieg auf zum Himmel. Brennende Trümmerstücke flogen umher und klatschten schließlich ins Wasser, das die Flammen löschte und nur noch verwehenden Qualm zurückließ.
Die Samothraki existierte nicht mehr. Ein paar Tage später würden vielleicht einige Planken an Land gespült werden, eventuell auch der eine oder andere Leichnam, vielleicht sogar die aufgedunsenen, von den Fischen angefressenen Überreste von Pavlos Themelis selbst.
FÜNFTES KAPITEL
Harry wachte auf mit dem Wissen, dass gerade etwas geschah oder in Kürze geschehen würde. Er saß aufrecht in dem gewaltigen alten Bett, in dem er eingenickt war, mit dem Rücken gegen das Kopfteil gelehnt, ein schweres, schwarz eingebundenes Buch offen in den kraftlosen Händen: Das Buch des Vampirs, eine angeblich auf Tatsachen beruhende Abhandlung, die das ursprüngliche Böse des Vampirs von der Antike bis in die Moderne behandelte. Für den Necroscopen war das reine Unterhaltung; viele der angeblich gut dokumentierten Fälle waren nichts weiter als alberne Konstrukte. Niemand auf der Welt – vielleicht mit einer einzigen Ausnahme – wusste mehr über die Legenden, den Ursprung und die Wahrheit des Vampirismus als Harry Keogh. Die einzige Ausnahme war sein Sohn, ebenfalls ein Harry, aber Harry junior zählte nicht, denn er weilte gar nicht in dieser Welt, sondern ... woanders.
Harry hatte einen häufig wiederkehrenden, unruhigen Traum gehabt. In diesem Traum waren sein Leben und die Liebesbeziehungen der letzten fünfzehn Jahre mit der Gegenwart verschmolzen und in einem surrealen Kaleidoskop erotischer Bilder aufgegangen. Er hatte davon geträumt, mit Helen zu schlafen, seiner ersten zaghaften romantischen und körperlichen Liebelei; und mit Brenda, seiner ersten wahren Liebe und Ehefrau. Und auch wenn diese Bilder auf seltsame Weise miteinander verschmolzen, so waren das doch angenehme und vertraute, zärtliche Träume. Aber er hatte auch von Lady Karen und ihrer schrecklichen Feste in der Welt der Wamphyri geträumt, und wahrscheinlich hatte dieser beängstigende Traum ihn auffahren lassen.
Und irgendwie waren da auch Bilder von Sandra eingeflossen, seiner neuen, wie er hoffte, dauerhaften Beziehung, die aufgrund ihrer Frische lebendiger gewesen waren, realer und unmittelbarer als die anderen. Das hatte einem Teil des Traumes die Bitterkeit genommen und dem Rest den Schrecken.
Er hatte von der Liebe mit Frauen geträumt, die er gekannt hatte, und mit einer, die er jetzt kannte. Und davon, Sex mit Lady Karen zu haben, der er glücklicherweise nicht auf diese Art begegnet war.
Aber mit Sandra hatte er sich schon einige Male geliebt, sogar viele Male, wenn auch selten befriedigend, und immer in ihrer Wohnung in Edinburgh, im gedimmten grünlichen Lichtschein ihrer Nachttischlampe. Zumindest für Harry war es nicht befriedigend gewesen, für Sandra konnte er das natürlich nicht sagen. Er vermutete jedoch, dass sie ihn wirklich liebte.
Er hatte es sie nie merken lassen, wie unbefriedigend es für ihn war. Nicht nur, weil er sie nicht kränken wollte, sondern vor allem, weil es nur seine eigenen Defizite offen legte. Für ihn war es ein Defizit, aber zur gleichen Zeit so etwas wie ein Paradox. Denn im Vergleich mit anderen Männern (und Harry war nicht so naiv zu glauben, es habe keine anderen gegeben)
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