ENTSEELT
musste er Sandra fast übermenschlich erscheinen.
Er konnte eine Stunde mit ihr Sex haben, manchmal sogar länger, bevor er zum Höhepunkt kam. Aber er war nicht übermenschlich, wenigstens nicht in diesem Sinn. Es war nur so, dass er sich im Bett offenbar nicht auf sie einstellen konnte. Wenn er kam, dann war da immer eine andere Frau vor seinem geistigen Auge. Irgendeine eine entfernte Bekannte oder eine flüchtige Begegnung; ein Mädchen von einem Titelblatt; sogar die Helen aus seiner Kindheit, oder die Brenda seiner Jugend. Wie soll man so etwas einer Frau eingestehen, die man zu lieben glaubt, und bei der man sich ziemlich sicher ist, dass sie einen liebt?
Es lag ganz klar an ihm, denn Sandra war sehr schön und liebevoll. Eigentlich müsste Harry sich sogar für einen Glückspilz halten, das sagte jedenfalls jeder. Vielleicht war es das kalte, grüne Licht in ihrem Schlafzimmer, das seine Erregung dämpfte – grün war nicht gerade seine Lieblingsfarbe. Auch ihre Augen waren grün, wenigstens grün-blau.
Darum unterschied sich der Teil seines Traums, der von ihr handelte, von der Realität, denn dort hatten sie sich geliebt und es war gut gewesen. Er stand kurz vor dem Orgasmus, als er aufwachte, mit dem Wissen aufschreckte, dass etwas vor sich ging.
Er lag in seinem eigenen Bett, in seinem Landhaus bei Bonnyrigg, in der Nähe von Edinburgh, mit dem Buch immer noch in Händen. Und das Bewusstsein dieses Gewichts auf seinem Körper – vielleicht hatte das seine Träume beeinflusst. Vampire. Die Wamphyri. Es wäre nicht verwunderlich. Sie spukten schon seit Jahren durch die meisten seiner Träume.
Draußen näherte sich die Morgendämmerung; schwache Strahlen graugrünen Lichts strömten durch die schmalen Ritzen in den Jalousien; sie färbten die Luft in dem Schlafzimmer mit einem schwachen Aquarellschimmer, dem Hauch einer unterseeischen Landschaft.
Langsam wachte er auf und nahm die Realität um sich herum wahr. Er verspürte ein Pulsieren unter der Schädeldecke. Seine Nackenhaare richteten sich auf, ebenso wie sein Penis als Folge dieser Träume. Er war nackt und erregt – und jetzt auch wach und angespannt.
Er lauschte konzentriert: die Heizungsrohre gluckerten, als der Zeitschalter den Boiler anschaltete; die ersten Vögel zwitscherten unsicher im Garten; die Welt streckte sich der kommenden Dämmerung entgegen.
Harry schlief selten mehr als ein oder zwei Stunden am Stück, und die Dämmerung war für gewöhnlich seine liebste Tageszeit. Es war immer gut zu wissen, dass man die Nacht sicher überstanden hatte und ein neuer Tag aufzog. Aber diesmal spürte er, dass etwas im Gange war, und er starrte konzentriert durch den schwachen grünlichen Schimmer auf die offene Schlafzimmertür. Noch vom Schlaf umfangen, sahen seine Augen alles mit weichen Umrissen, unscharf und verschwommen. Nichts im ganzen Raum hob sich deutlich ab. Da war nur diese unerklärliche Anspannung, die im Vergleich zu seinem verschwommenen Sichtfeld eigenartig wirkte.
Jeder, der je nach einem heftigen Trinkgelage aufgewacht ist, wird nachvollziehen können, wie er sich fühlte. Man ist sich nicht sicher, wo man ist, und will am liebsten irgendwo anders sein, weil man das Gefühl hat, nicht am richtigen Ort zu sein; und selbst wenn man zu wissen glaubt, wo man ist, kann man sich dessen nicht gewiss sein, man kann ja nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob man wirklich man selbst ist. Ein klassischer Teil des ›nie-wieder‹-Syndroms.
Doch Harry hatte nicht getrunken, jedenfalls nicht, soweit er sich erinnern konnte.
Die andere Sache, die ihm jedes Mal wieder auffiel, wenn er so wie jetzt aufwachte – etwas, dass ihn früher sehr erschreckt hatte, bei dem er aber geglaubt hatte, er habe sich daran gewöhnt – war seine Lähmung. Die Tatsache, dass er sich nicht bewegen konnte. Es war nur der Übergang vom Schlafen zum Wachen, das wusste er, aber es war trotzdem schrecklich. Er musste seine Gliedmaßen allmählich zur Bewegung zwingen und fing meist mit einer Hand oder einem Fuß an. Doch zunächst folgten nur seine Augen seinen Befehlen.
Er zwang sie, durch das Schlafzimmer in die Schatten dahinter zu starren. Irgendwas ging da vor. Etwas hatte ihn aufgeweckt. Etwas hatte ihm die Befriedigung genommen, sich in Sandra zu ergießen und es endlich einmal zu genießen. Etwas bewegte sich durch das Haus ...
Das bot eine Erklärung für das Jucken seiner Kopfhaut, die aufgerichteten Nackenhaare und das Schrumpfen seiner
Weitere Kostenlose Bücher