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ENTSEELT

ENTSEELT

Titel: ENTSEELT Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Lumley
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das sie gewesen war, der Versuchung nicht widerstehen, wieder mit ihrem Sohn zu reden.
    Zuerst war da nur die Stille, das langsame Gurgeln des Wassers, der Gesang der Vögel. Aber nach kurzer Zeit hatte sie Harrys Gegenwart bemerkt. Harry? , hatte sie sich atemlos in seinem Verstand gemeldet. Harry, bist du das? Ich weiß, dass du das bist. Du bist nach Hause gekommen, Sohn!
    Das war alles, was sie gesagt hatte, aber es hatte gereicht.
    »Mama – nein!«, hatte er aufgeschrien. Er war aufgesprungen und rannte, während jemand in seinem Kopf eine Wunderkerze entzündete, die ihre brennenden Funken überall durch seinen Verstand jagte. Erst da war ihm aufgegangen, was der Meister des Gartens, Harry junior, ihm angetan hatte.
    Eine solche mentale Qual, dass du es nie wieder versuchen wirst! Das hatte ihm sein vampirisierter Sohn versprochen, und dieses Versprechen hatte er gehalten. Nicht der Meister selbst, aber die posthypnotischen Befehle, die er eingepflanzt und in Harrys Verstand verankert hatte.
    Die Dämmerung hatte Harry im langen Gras am Flussufer überrascht, wo er unter grauenhaften Schmerzen wieder in einer Welt erwachte, von der er jetzt ohne Zweifel wusste, dass er in ihr kein Necroscope mehr war. Er konnte nicht mehr mit den Toten sprechen. Jedenfalls nicht bewusst.
    Aber während er schlief und träumte ...?
    Harry ... die Stimme seiner Mutter rief wieder nach ihm. Ihre Stimme hallte durch die endlosen, verwinkelten Gewölbe seiner ansonsten leeren Träume. Ich bin hier, Harry, hier. Und ohne sein bewusstes Zutun war er abgebogen und hatte eine Tür durchschritten. Jetzt stand er wieder am Flussufer, diesmal im gleißenden Mondlicht. Bist du das, Harry? Ihre gedämpfte mentale Stimme verriet ihm, dass sie das kaum zu glauben wagte. Bist du wirklich zu mir gekommen?
    »Ich kann dir nicht antworten, Mama«, wollte er sagen, aber seine Stimme versagte den Dienst.
    Aber du hast mir bereits geantwortet, Harry, sagte sie. Und er wusste, dass sie recht hatte. Denn die Toten brauchen das gesprochene Wort nicht; es reicht, zu ihnen zu denken, wenn man die Befähigung hat.
    Harry ließ sich dort am Flussufer zu Boden fallen, nahm eine fötale Haltung ein, schlang die Arme um den Kopf und wartete auf den unvermeidlichen Schmerz – doch der blieb aus!
    Ach Harry, Harry!, sagte sie sofort. Hast du wirklich geglaubt, dass ich dir nach diesem ersten Mal mit Absicht Schmerzen zufügen oder dich verletzen würde?
    »Mama, ich ...«, er versuchte erneut, mit ihr zu sprechen, und zuckte vorausahnend zusammen, während er aufstand. »Ich verstehe das nicht!«
    Doch, mein Sohn, beschwichtigte sie ihn. Natürlich tust du das! Du hast es nur vergessen. Du vergisst es jedes Mal, Harry.
    »Vergessen? Was habe ich vergessen, Mama? Was vergesse ich jedes Mal?«
    Du vergisst, dass du schon hier gewesen bist, in deinen Träumen, und dass das, was mein Enkelsohn dir angetan hat, hier nicht gilt. Das hast du vergessen, und du tust es jedes Mal wieder! Und jetzt ruf mich zu dir, Harry, damit ich ordentlich mit dir reden und einen Spaziergang mit dir machen kann.
    Stimmte das, konnte er in seinen Träumen mit ihr reden? Das hatte er auch in früheren Zeiten getan – da war er gleichzeitig wach gewesen und hatte geschlafen –, aber jetzt war es anders.
    Nein, das ist es nicht, mein Sohn. Es ist genau wie früher. Ich muss dich nur jedes Mal wieder daran erinnern.
    Und dann ertönte wieder eine andere Stimme, nicht die seiner Mutter, eine, die aus seiner Erinnerung und nicht aus seinem träumenden Verstand kam: ... Du darfst nicht bewusst mit den Toten reden, und wenn sie mit dir reden, dann musst du deren Worte sofort aus deiner Erinnerung streichen oder – oder du trägst die Konsequenzen.
    »Die Stimme meines Sohnes«, seufzte er, als er plötzlich verstand. »Wie oft haben wir uns schon miteinander unterhalten, Mama? Ich meine, seit es begonnen hat, mir wehzutun, also in den letzten vier Jahren?«
    Während sie begann, ihm zu antworten, beschwor er sie herauf, so dass sie aus den Wassern aufstieg, ihm die Hand entgegenstreckte und sich von ihm ans Ufer ziehen ließ. Sie war wieder eine junge Frau, so wie an jenem Tag, als sie starb.
    Vielleicht zehn-, zwanzig-, fünfzigmal. Sie zuckte geistig die Achseln. Schwer zu sagen, Harry. Aber es wird jedes Mal schwieriger, zu dir durchzudringen. Und wir haben dich so vermisst.
    »Wir?« Er nahm ihre Hand, und sie gingen zusammen an dem dunklen Fluss entlang, unter einem vollen Mond, der

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