ENTWEIHT
Flucht, sie ging einfach weg. Sie verließ mich – zwar ein bisschen verwirrt, ansonsten aber im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, aus freiem Willen. Wahrscheinlich war es ganz gut so. Damit will ich sagen, dass es letztlich wohl ohnehin auf etwas Derartiges hinausgelaufen wäre. Wäre sie geblieben, wäre sie mir mit Sicherheit irgendwann ... auf die Nerven gegangen. Indem sie ging, beschleunigte sie eben ihr Ende. So war es. Und nachdem nun alles gesagt ist, gebe ich ohne Umschweife zu: Ja, sie war ein Fehler.«
Mittlerweile hatten sie die Hauptstraße verlassen, waren nach rechts in die alte Zufahrtsstraße zum Palataki eingebogen und erklommen den steilen Hügel auf einem schmalen, sich im Zickzack dahinwindenden Pfad, den man kaum noch als Straße bezeichnen konnte. Zur Linken wurde er von dichtem Gestrüpp flankiert, und der brüchige Belag, durch den sich allmählich Gräser, Wurzeln und Kriechgewächse ihre Bahn brachen, war von schlüpfrigem Moos überzogen. Darum war es wahrscheinlich ganz gut, dass die Nonne, die am Steuer saß, mit äußerster Vorsicht und nur im ersten Gang fuhr. Als die dunklen Umrisse der Kuppeln des Palataki über ihnen aufragten, begriff Malinari, weshalb die Einheimischen diesen Ort mieden.
Überall ringsum glommen Glühwürmchen – beinahe so, als hätte jemand unzählige noch glimmende Zigarettenkippen in die Sträucher geworfen. Der Sommer war lang gewesen und es hatte noch nicht geregnet, dennoch hing ein Hauch von Feuchtigkeit und modriger Fäulnis in der Luft. War Malinari bisher der Meinung gewesen, das Bauwerk passe nicht ganz auf die Insel, sah er nun, dass dies auch auf das umgebende Gelände – sogar den Hügel, auf dem es stand – zutraf. Er empfand hier genau dasselbe: Es war ein besonderer Ort.
»Auf einer so sonnigen Insel wie dieser«, lächelte Vavara ihn aus der Düsternis der Ecke, in der sie saß, an – ein kurzes, weißes Aufblitzen nur, das sich in Sekundenschnelle in einen Schlund voller messerscharfer Zähne verwandeln konnte – »ist dies einer der wenigen Orte, an denen ich mich wohl fühle.«
Ihm war klar, was sie meinte. »Es hat etwas«, erwiderte er, »eine einzigartige Atmosphäre. Die Sternseite ist zwar ganz anders, und doch fühle ich mich hier wie zu Hause. Na ja, beinahe so wie in Rumänien. Aber das ist verständlich.«
»Als ich zum ersten Mal hierherkam«, sagte Vavara, »und feststellte, dass das Haus leer war und zum Verkauf stand – als ich es erkundete und die ganzen Keller und alten Minenschächte entdeckte – da war mir klar, dass ich es haben musste.«
»Andererseits«, sagte Malinari, »wenn ich ein junger, verliebter Grieche wäre auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ein Schäferstündchen, dann wäre dieser Ort einfach ideal dafür.«
»Das stimmt«, sagte Vavara. »In der Tat kamen sie früher hin und wieder hierher, die Verwegeneren jedenfalls. Aber darum kümmerte ich mich schon vor langer Zeit. Komm! Ich zeige dir, wofür ich sonst noch Sorge getragen habe ...«
Der Wagen war oben angelangt, und die in ihrer Haube umso bleicher wirkende Fahrerin stieg aus, um ein Tor in dem sich ringsum ziehenden, zwischen hohen Metallpfosten gespannten, rostigen Maschendrahtzaun zu öffnen. Ein knöchelhoch wabernder Bodennebel schien – nein, er quoll tatsächlich direkt aus dem Erdreich. Als Malinari sie anblickte, nickte Vavara und bestätigte ihm damit, was er bereits mehr als vermutete.
»Oh ja!«, seufzte sie, ihre Augen blutrot. »Da unten reift alles heran. Höchstens noch ein paar Wochen.«
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung, und drohend tauchte vor ihnen der Palataki aus der Nacht auf.
Als die Limousine vor einem gewaltigen, eisenbeschlagenen Portal zum Stehen kam, ließ Malinari seine Sinne schweifen. »Da ist jemand«, warnte er ... doch dann erkannte er die telepathische Präsenz: »Ach ja, dein Gefolgsmann, äh?«
»Zarakis, aye«, erwiderte sie. »Mein ergebenster Leutnant, Zarakis Hohnsknecht, noch von der alten Sternseite. Er sieht hier nach dem Rechten, und allein seine Gegenwart reicht bereits aus, ungebetene Gäste fernzuhalten.«
Als sie ausstiegen – Vavaras Fahrerin ebenfalls – fiel Malinari auf, dass die Nonne noch immer am ganzen Leib zitterte. Sie war kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, und musste sich an den Wagen lehnen.
»Gebieterin?«, erscholl eine tiefe Stimme aus dem düsteren Torbogen. Mit einem Mal stand er vor ihnen, Zarakis. Nicht minder groß als
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