ENTWEIHT
womöglich noch Schlimmeres zustieß als bisher.
Manolis kaute auf seiner Unterlippe. Schließlich holte er tief Luft und seufzte enttäuscht: »Ich … ich komme mir so nutzlos vor!« Und in typisch griechischer Manier warf er dabei die Arme in die Höhe.
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Trask. »Mit dem, was du uns erzähltest, hast du all unsere Vermutungen bestätigt.«
»Huh!«, sagte Manolis. »Ja.« Aber er wirkte dennoch nicht recht überzeugt.
»Gibt es noch etwas, was wir wissen sollten, bevor wir gehen?«, fragte Trask.
»Hm, ja, ich werde euch etwas zeigen.« Damit wischte Manolis die Spielkarten vom Tisch und entfaltete an ihrer Stelle eine Karte von Krassos, eines jener billigen, in leuchtenden Farben gehaltenen, selbst zusammengeschusterten Machwerke, die historisch bedeutsame Orte, archäologische Fundstätten, lokale Hotels, Tavernen und angeblich schneeweiße Sandstrände verzeichnen, kurz: einen Führer zu all den Touristenfallen der Insel.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte Chung, »aber wir hatten von Anfang an vor, nach Krassos zu fahren.«
»Auf die Insel?« Manolis starrte ihn an, doch dann entsann er sich Chungs sonderbaren Talents. »Hast du, äh, irgendetwas lokalisiert? Auf Krassos?«
»Noch nicht«, antwortete Chung reuevoll. »Das kommt vielleicht später noch.«
»Wir sind als Touristen hier«, erklärte Trask.
»Ah! Eure Tarnung. Aber Krassos? Woher wusstet ihr, dass ihr dorthin müsst?«
»Zufall«, erwiderte Trask. »Außerdem haben wir mittlerweile ohnehin die Fähre verpasst!«
»In ein paar Stunden geht wieder eine«, sagte Manolis, »noch bevor es dunkel wird. Aber Ben, diese Insel – Krassos – ist ein ziemlich gefährlicher Ort für Leute wie euch. Für jeden Menschen! Habt ihr Rückendeckung?«
»Bald«, sagte Trask.
Manolis nickte. » Sehr bald, hoffe ich! Aber keinen Necroscope, eh? Keinen Harry Keogh. Er war schon einzigartig, dieser Mann ... und wir halten uns für Mordskerle, was?« Er warf sich in die Brust, zuckte zusammen und nahm wieder eine entspannte Haltung an. »Ah, dieser Harry ... verglichen mit ihm sind wir die reinsten Muttersöhnchen.«
»Er hatte zu viel Schneid«, sagte Trask, »das konnte nicht gutgehen, und am Ende hat es ihn erwischt. Ohne ihn hätten wir nie eine Chance gehabt und noch nicht einmal das grundlegende Wie und Warum der Sache begriffen. Dafür stehen wir nach wie vor in seiner Schuld, und jetzt setzen wir das ganze Wissen, das er uns hinterließ, wieder von vorne ein.«
»Damals hätte es uns alle um ein Haar erwischt«, sagte Manolis und schämte sich nicht, dass ihn dabei ein Schauder überlief. »Aber wir hatten Glück.« Abermals nickte er. Er warf einen Blick auf sein Handy, kritzelte die Nummer auf den Faltplan und erklärte, indem er mit dem Kugelschreiber auf die Karte deutete, die örtlichen Gegebenheiten der Insel und wie es dort aussah.
»Diese Karte hier, sie zeigt alles«, sagte er. »Aber trotzdem gebe ich euch die üblichen Erläuterungen:
Vom Grundriss her sieht die Insel aus wie ein Apfel, von dem jemand ein paar Stücke abgebissen hat. Sie hat einen Umfang von neunzig, vielleicht hundert Kilometern. Hauptsächlich Küstenstraßen, bis auf die Stellen, an denen die Berge bis ans Meer reichen. Krassos ist eine grüne Insel; die Hügel und Berge sind bewaldet. Im Norden gibt es fünf oder sechs Skalas; den Ausdruck Skala erkläre ich euch. Die meisten Dörfer auf der Insel gibt es doppelt. Am Meer bekam das Dorf den Namen Skala – Skala dies, Skala das. Das Gegenstück in den Bergen ist die Hauptsiedlung. Früher lebten die Fischer natürlich am Meer – hey, was auch sonst, damit bestritten sie ihren Lebensunterhalt! Aber sobald irgendwelche Angreifer auftauchten, verzogen sie sich in die Berge. Später kamen Oliven und Ackerbau hinzu, und heute sind alle Siedlungen ständig bewohnt. Das heißt also, Astris liegt in den Bergen, Skala Astris am Meer.
In einer tief eingeschnittenen Bucht im Osten von Krassos liegt Limari, eine ›große‹ Stadt mit über fünfzehnhundert Einwohnern; groß gemessen an den Maßstäben der Insel, versteht ihr? Der verstümmelte Leichnam – derjenige mit dem Egel – wurde ein paar Kilometer südlich von Limari aus dem Meer gefischt. Hier, zwischen Limari und der Stelle, an der ich von der Straße gedrängt wurde, befindet sich das Kloster. Dort wartete die riesige Limousine auf mich. Das Kennzeichen habe ich leider nicht notiert.« Er zuckte entschuldigend die Achseln.
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