ENTWEIHT
eure Überlieferungen mit der Zeit vielleicht Fehler eingeschlichen – vielleicht auch aus Schamgefühl, weil deine tributpflichtigen Vorfahren sich schämten.«
»Sich schämten?« Kraftlos, zusammengesunken saß der alte Vladi da. Jedes Feuer war aus ihm gewichen. »Was erzählst du da? Dass meine Ahnen einst Unrecht taten und darum die Geschichte meines Stammes beschönigten, um ihre Vergehen zu verbergen? Willst du das damit sagen? Aber selbst wenn du recht haben solltest, was habe ich denn getan?«
»Du hast getan, was dein Blut von dir verlangte«, sagte Lardis. »Ob das recht oder unrecht war, vermagst allein du zu sagen. Ich für meinen Teil kann dir nur den Rat geben: Sage dich los von diesen alten Legenden, von all diesen Träumereien, die in Wirklichkeit bloß Albträume sind. Sage mir, was ich wissen muss, Vladi, und helfe mir und meinen Freunden, die Welt von einem großen Übel zu befreien.«
»Demnach«, sagte Vladi mit einem benommenen Kopfschütteln, bemüht, sich auf seinem Stuhl aufzurichten, »bist du also nicht der Ferenc. Nein, offenkundig nicht, denn du bist bloß ein Mensch und du verleugnest ihn.« Er redete wirr, es war, als wäre alles, was Lardis gesagt hatte, zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinausgegangen oder als hätte er lediglich gehört, was er hören wollte. Und entsprechend antwortete er auch. »Nun gut, dann bist du ja vielleicht der Bote, gewissermaßen? Ist es das? Kamst du, um mir zu sagen … mir zu sagen, dass der Ferenc und die Seinen ... dass sie nicht mehr sind? Willst du damit sagen, dass … dass meine lange Suche ein Ende hat? Bist du deshalb hier?«
»Die Ferenczys?«, sagte Lardis. »Soweit ich weiß – und ich bete darum, dass es stimmt – gibt es sie nicht mehr. Der Letzte von ihnen starb zu meinen Lebzeiten: Fess Ferenc, ein groteskes Ungeheuer in seiner Feste auf der Sternseite, in einer Vampirwelt jenseits der Tore, die du als seltsame Orte kennst. Aber falls du mit ›den Seinen‹ die Wamphyri meinst ... oh, ja, die gibt es immer noch, alter Vladi. Ein paar davon sogar hier, in dieser Welt, und zwar jetzt, in diesem Augenblick. Aber sagte ich das nicht bereits? Dieses Mädchen aus deinem Stamm – sie wurde von einer Wamphyri geholt, einer Frau, wie wir glauben, die erst vor Kurzem aus ihrer Ursprungswelt hierherkam. Ich und noch weitere so wie ich, wir sind bestrebt, diese Wesen aufzuspüren und zu vernichten. Darum bin ich zu dir gekommen. Nicht um dich unter Anklage zu stellen, sondern um dich um deine Hilfe zu bitten. Verweigerst du sie uns allerdings« – Lardis nickte grimmig – »dann werde ich dich anklagen!«
»Sie vernichten? Die Wamphyri, seit altersher unsere Feinde? Natürlich müssen sie vernichtet werden! Aber ...« Vladi war völlig verwirrt; er begann sich hin- und herzuwiegen, und sein Blick wirkte mit einem Mal glasig. »Was soll ich von all dem halten? Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht ... ich ... ich kann nicht … und was ist mit unseren Überlieferungen? ... Unsere Legenden erzählen von den alten Zeiten, sie bewahren die Geschichte meines Stammes. Und nun kommst du und willst ... willst mir weismachen, das seien alles Lügen? Alles?«
»Einige zumindest«, nickte Lardis.
»Aber der Ferenc, er war ein großer ...«
»Ein großes Ungeheuer!«, sagte Lardis. »Aye, ganz gleich welcher Ferenc dein ›mächtiger Boyar‹ auch gewesen sein mag, er war nichts als ein Vampir-Lord, von seinen eigenen Leuten, den Wamphyri, von der Sternseite verbannt. Und das sagt alles: Dieser sogenannte Held wurde von den schlimmsten je da gewesenen Sündern für seine Vergehen verstoßen! Ha! Da hast du es. Ferenc, Ferenczy oder Ferengi, sie waren alle von einem Blut, Vladi, und allesamt waren sie Ungeheuer.«
»Aber die Legenden! Die Legenden, die uns aus alten Zeiten überliefert wurden ...«
»Aus alten Zeiten?«, schnitt Lardis ihm das Wort ab, während Liz sich erhob, den Tisch umrundete und Vladi die Hand auf die gebrechliche Schulter legte, um ihn zu beruhigen. »Ich werde dir erzählen, wie es in den alten Zeiten war«, fuhr Lardis fort. »Wie es damals auf der Sonnseite war und heute noch ist, in der Welt jenseits der Tore, die du als seltsame Orte kennst. Aye, und wie es auch in dieser Welt sein könnte, wenn es uns nicht gelingt, dieses Übel daran zu hindern, sich weiter auszubreiten. Hör mir zu und urteile dann selbst, ob ich die Wahrheit spreche oder nicht.«
»Fahre fort«, nickte Vladi nach einer Weile.
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