ENTWEIHT
»Ich werde dir zuhören.«
Einen Moment lang schien Lardis in Gedanken, dann erzählte er weiter, die ganze Geschichte, allerdings so knapp wie möglich, indem er in den Worten der alten Szgany-Sprache Bilder erstehen ließ, die der Zigeunerkönig mit seiner Vorstellungskraft (und vielleicht auch dem, was er von seinen Vorfahren gehört hatte) ausfüllte.
Als Lardis schließlich fertig war, herrschte sekundenlang Schweigen.
»Du ... du musst dich irren«, sagte Vladi, nun schon mit festerer Stimme, doch noch immer am ganzen Leib bebend. »Ich bete darum, dass du dich irrst. Aber ob nun wahr oder nicht, ich kann meinem Stamm nicht – ich wage es nicht, meinen Leuten mitzuteilen, was du mir erzählt hast! Wie auch? Unsere erhabenste Überlieferung bloß die schmachvolle Lüge einiger feiger Urahnen? Nein, nicht das! Aber ich muss mit meiner Suche aufhören. Denn wenn das, was du da sagst, stimmt, dann hat mein guter, alter Riecher mich diesmal in eine gänzlich falsche Richtung geführt und etwas Furchtbares verursacht. Das Mädchen, ja – ›die kleine Maria‹, so werde ich sie stets in Erinnerung behalten – war mit mir verwandt, so wie alle Szgany Ferengi. Ach, dieses hübsche Kind … ihrer Lebenskraft beraubt, tot und von uns genommen, muss sie jetzt in der Erde ruhen. Und alles nur, weil … weil ich meinen Stamm in die Irre führte!«
»Besser tot und begraben und für immer von uns gegangen«, sagte Lardis, nun mit sehr leiser Stimme, »als untot in der Stätte irgendeines Lords oder einer Lady der Wamphyri. Nun, wenigstens hattet ihr einen Verdacht und wart klug genug, ihr einen Pflock durchs Herz zu treiben.«
»Eh? Was?« Der alte Zigeunerkönig blickte ihn eindringlich an. »Du glaubst, wir waren das? Nein – nein, das muss das Werk verängstigter Dorfbewohner gewesen sein, aber nicht von mir und den Meinen! Allerdings … wie es jetzt aussieht, hatten sie wohl recht, so etwas Schreckliches zu tun.« In Vladis Augen standen Tränen. »Aber die Wamphyri? In dieser Welt? Und eine von ihnen holte sich meine niedliche kleine Maria? Verhält es sich wirklich so?«
»Wir sind ihnen auf der Spur«, sagte Lardis abermals, »ebenderjenigen, die dies getan hat, und anderen, die ihr in nichts nachstehen – um sie von ihrem Elend zu erlösen und sie uns ein für allemal aus den Augen zu schaffen.«
Vladi holte tief Luft und straffte sich. »Dann werde ich dir erzählen, wie es war. Und wo sie sich aufhält –, aber genau vermag ich es nicht zu sagen, ich kenne nämlich nicht alle Einzelheiten. Maria erzählte uns nur sehr wenig. Sie war verwirrt und ...«
»... untot«, sagte Lardis, »aye.«
»Was auch immer Sie uns sagen können«, warf Liz, den Arm um Vladis hängende Schultern gelegt, ein, »wird uns sehr weiterhelfen. Wir wissen nicht allzu viel, und diese ... diese Kreatur hält sich vor uns verborgen. Nur eines scheint gewiss: Wenn wir sie nicht finden, werden noch viele weitere Unschuldige ihr Leben lassen oder, schlimmer noch, nachts als nach Blut gierende Untote umherstreifen!«
»Dies ist deine Chance, deinen guten Ruf wiederherzustellen, Vladi«, sagte Ian Goodly, »den deinen und den deines Stammes. Was geschehen ist, ist geschehen. Die Vergangenheit können wir zwar nicht mehr ändern, aber die Zukunft liegt immer noch vor uns. Und solange wir noch eine Zukunft haben, sollten wir alle unser Bestes geben, sie auch zu bewahren.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erklärte Vladi. »Ich träumte wieder einmal von den seltsamen Orten, von einem, der von dorther kam, um sein Volk zu suchen. Wie stets wollten wir uns in den Süden aufmachen, um dort zu überwintern, obwohl der Winter in diesem Jahr später kommt. Und mein Riecher sagte mir, dass sich auf den griechischen Inseln etwas tat; mir war, als nähme ich einen Geruch aus grauer Vorzeit wahr; ich wusste , dass etwas äußerst Merkwürdiges auf uns wartete, und dachte nur, dass vielleicht diesmal … vielleicht diesmal unsere Überlieferungen wahr werden würden.
In Kavála nahmen wir die Fähre auf ... auf die Insel. Wir zahlten nicht viel, dennoch waren die Griechen froh, uns als Kunden zu haben, die Saison war nämlich sehr schlecht gelaufen. Also schmückten wir unsere Wagen und zogen durch die Dörfer der Insel. Das Geld saß zwar nicht gerade locker, aber nach und nach nahmen wir doch etwas ein. Und natürlich folgte ich meiner Nase.
Für ein paar Tage schlugen wir unser Lager am Rand einer Ortschaft namens Skala Astris
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