ENTWEIHT
schließlich dir begegnete, Lardis von den Lidescis, drüben, im Wald von Eleshnitsa, da hatte ich die Nase voll von Fremden. Das erwähne ich sozusagen als … als Entschuldigung.«
»Nicht nötig«, sagte Lardis mit einem Kopfschütteln. »Ich glaube nicht, dass man dir das zum Vorwurf machen kann.«
»Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist der Name jener Insel«, sagte Liz.
»Krassos«, antwortete Vladi. »Und falls ihr dorthin wollt, dann viel Glück! Ich für meinen Teil ...«
»... Für dich sind die Tage des Umherziehens vorüber«, sagte der Hellseher. »Ich sehe deine Zukunft recht deutlich vor mir, alter König. Von hier aus wirst du zu deinem Stamm in den Wäldern zurückkehren. Dort hast du noch einige Jahre vor dir, ehe deine Zeit schließlich kommt. Was aber die seltsamen Orte angeht ...« – er schüttelte den Kopf – »du wirst ihren Ruf nicht mehr vernehmen.«
»Ich glaube dir«, sagte Vladi. »Und da ich der Letzte meiner Linie bin und das Wenige, was von meinem schlechten Blut übrig ist, nur noch dünn in meinem Stamm fließt, weiß ich auch, dass es nie mehr einen Riecher wie den meinen geben wird. Und was den Ferenc betrifft: Jetzt kenne ich die Wahrheit. Ich war ein alter Narr: Seine Absichten entsprachen nicht unserem Wesen. Nun werde ich zusehen, dass man ihn vergisst und sich niemand mehr auf die Suche nach ihm begibt.«
»Aber begreifst du denn nicht?«, sagte Lardis mit einem Stirnrunzeln. »Habe ich mich etwa nicht klar genug ausgedrückt? Ich sagte dir doch, dass es keinen Ferenc mehr gibt.«
Einige Sekunden lang blickte der Alte ihn eindringlich an, ehe er antwortete: »Ich wünschte, du hättest recht, Lardis Lidesci, aber ich fürchte, da irrst du dich. Es gibt einen. Womöglich ist er der Letzte seiner Art, das vermag ich nicht zu sagen, aber er ist immer noch da. Irgendwo an der Mittelmeerküste hält er sich auf, in einer großen Stadt. Trotz all meiner Wanderungen fand ich ihn nicht, zugegeben. Aber ich glaube, das liegt daran, dass er sich selber noch nicht gefunden hat.«
»Sich noch nicht selber gefunden?«Die Falten auf Lardis’ Stirn wurden tiefer. »Was soll das heißen?«
»Vielleicht wartet er den rechten Augenblick ab«, sagte Vladi, »und ist noch nicht bereit, sich zu offenbaren. Falls dem so ist, dann wird er zu spät kommen; für mich ist er erledigt. Und wenn ich einmal nicht mehr bin, werden die Meinen ihn nicht mehr kennen. Nein, denn ich werde mein Bestes tun, wenigstens eine falsche Legende zu widerlegen, ehe ich sterbe.«
»Ist das dein Szgany-Eid?«, wollte Lardis wissen. Ihm war klar geworden, dass es, ganz gleich was der Zigeunerkönig nun annahm oder nicht, jetzt auch keinen Unterschied mehr machte.
»Aye«, sagte Vladi. »Mein Szgany-Eid!«
ELFTES KAPITEL
LONDON … BAGHERIA … CASTELLANOS GESCHICHTE
Luigi Castellanos Villa an der sizilianischen Küste des Tyrrhenischen Meeres, im Bezirk Bagheria – eine von mehreren Villen oder vielmehr Operationsbasen, die er am Mittelmeer unterhielt – war ein zweistöckiges Gebäude mit zahllosen Fenstern, alle mit Außenjalousien versehen und geschlossen. Rings um das gesamte Obergeschoss verlief ein ummauerter Balkon, und diverse mit dunkelroten Terrakottaziegeln gedeckte Dächer fielen in unterschiedlichem Winkel steil ab. Ein Kiesweg wand sich von dem prunkvoll verzierten schmiedeeisernen Tor in der hohen Umfassungsmauer durch einen uralten Olivenhain voller knorriger, grotesk anmutender Bäume zu dem staubigen Parkplatz direkt vor dem Haus.
Als einstiger Sitz eines Olivenöl-Imperiums war die Villa seit jeher luxuriös eingerichtet gewesen – aber noch nie so kostspielig wie jetzt. In den über dreißig Jahren, die seit dem Tod beziehungsweise Verschwinden von Castellanos »Onkeln« vergangen waren (damals hatte er die Villa aus einer, wie man munkelte, ungeheuren Erbschaft erstanden), hatte sich noch jeder aus der Unzahl seiner »Geschäftsfreunde«, der Handvoll Besucher und wenigen Gäste, die den Kordon bewaffneter »Soldaten« an den Toren und auf dem Gelände passierten und das Haus betraten, beeindruckt gezeigt von Castellanos ständig wachsender Sammlung an Kunstgegenständen, die er mit Feuereifer von überallher zusammentrug.
In einem der Zimmer im Erdgeschoss, einem riesigen, düsteren, mit schweren Vorhängen zugehängten und dennoch unvorstellbar prachtvoll ausgestatteten Raum (Castellanos Arbeitszimmer in diesem seinem Hauptsitz) hingen alte Meister und antike Gobelins an den
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