ENTWEIHT
Aussichtswarten wurden in den Bergen errichtet, was sich eigentlich von selbst versteht. In späteren Jahrhunderten erschütterten Erdbeben die Gegend und die Anlage stürzte ein. Noch später kamen Invasoren, die die Überreste aus welchen Gründen auch immer abrissen. Als die Feste hier errichtet wurde, wurden die Steine von damals benutzt, und so, wie wir sie hier vor uns sehen, steht sie schon seit ungefähr zweihundert Jahren oder noch etwas länger da. Vor nicht allzu langer Zeit wurde sie als Hotel hergerichtet – ähem, wenn auch nicht unbedingt als Fünf-Sterne-Haus. Ich meine, seht euch das Ding doch mal an: Es ist eine heruntergekommene ›alte Ruine‹ wie aus dem Bilderbuch, eh?«
Am oberen Ende der Treppe warteten ein halb verkrüppelter, alter Grieche und seine beiden Söhne, um sie zu empfangen. Sie hatten die beiden Fahrzeuge ankommen sehen und gehofft, dass die Besucher womöglich Gäste seien. Gestikulierend bat der Besitzer die Gruppe in einen riesigen, kahlen Raum, dessen Gewölbedecke von gewaltigen Balken aus Pinienholz gestützt wurde. In Manolis und Andreas erkannte er sofort Landsleute und begann sich ausführlich mit ihnen zu unterhalten. Während die drei derart beschäftigt waren, führten die jüngeren Männer des Haushalts Trask und dessen Leute an ein Panoramafenster und forderten sie auf, hinauszublicken.
Die Aussicht war atemberaubend; man konnte die gesamte Südküste der Insel überblicken, von Krassos gut fünfundzwanzig Kilometer im Südwesten bis nach Limari, das nur ungefähr zehn Kilometer entfernt in südöstlicher Richtung lag. Lardis staunte nur noch. »Auf ganz Starside gibt es so etwas nicht!«, keuchte er, noch immer atemlos vom Anstieg. »So viel Sonne, Meer und Himmel! All die Farben! Von den Gipfeln unserer Grenzberge zu Hause habe ich auf die Wälder auf der einen und eine von Felsblöcken übersäte Wildnis auf der anderen Seite geblickt, aber so etwas habe ich noch nie gesehen!«
Einer der beiden jungen Männer verstand ein wenig von dem, was Lardis sagte, wenn auch nicht die Anspielung auf die Vampirwelt, und meinte: »Und erst vom Dach aus, da können Sie noch mehr sehen! Die ganze Insel – ganz Krassos!«
Andreas und Manolis hatten sich zu ihnen ans Fenster gesellt, Letzterer wirkte ein bisschen niedergeschlagen. »Der alte Mann hat mir eine traurige Geschichte erzählt«, sagte er. »Zwanzig Jahre lang fanden er und seine Familie hier oben gerade so ihr Auskommen. In jüngster Zeit allerdings, seit nunmehr fünf Jahren, läuft es mit dem Tourismus nicht mehr so gut. Und jetzt, in diesem El Niño-Jahr, sind sie schließlich pleite gegangen. Im Mai hatten sie vier Gäste für gerade mal zwei Wochen … ansonsten nur hin und wieder mal irgendwelche Durchreisende so wie wir. Der alte Mann, er sagt, jetzt ist er gezwungen zu schließen; seine Söhne werden nach Krassos gehen, um dort Arbeit zu finden. Er tut mir richtig leid.«
Trask nickte. »Nicht unbedingt die beste Stelle, um ein Hotel aufzumachen.«
»Die Lage ist ausgezeichnet «, widersprach Manolis. »Frische Luft, ideal zum Schwimmen und man kann in den Bergen wandern! Er sagt, die Küche sei exzellent und die Zimmer groß und luftig. Und was die Aussicht betrifft ...«
»Die Aussicht ist wundervoll«, sagte Liz, »wir müssen bloß noch rauf aufs Dach gehen. Aber sagtest du schwimmen?«
»Du wirst schon sehen«, nickte Manolis und sagte etwas auf Griechisch zu den beiden jungen Männern. »Na bitte! Jetzt werden sie uns hoch aufs Dach führen. Ben, ich kann hier nicht weg, ehe ich nicht etwas für diese armen Leute getan habe. Darum habe ich Getränke und ein bisschen zu essen aufs Dach bestellt. Ich lade euch ein und werde ein großzügiges Trinkgeld geben. Das könnten wir eigentlich alle tun. Kommt!«
Die steil ansteigende Innentreppe führte durch die hohen Räume aller vier Geschosse hindurch nach oben. Der alte Lidesci ging als Letzter und Liz hielt sich an seiner Seite. Ihr fiel auf, dass er hin und wieder stehen blieb, um prüfend die Luft einzuziehen. »Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte sie.
»Eh?« Lardis blickte sie an und blinzelte, dann schüttelte er sein graues Haupt. »Nein, alles in Ordnung. Mag ja sein, dass sie diesen Ort ›die Feste‹ nennen, aber er riecht nach nichts als Leben, Menschen und dem Zahn der Zeit. Vor allem Letzteres. Ich habe richtige Festen gesehen, Liz – die gewaltigen Festen der Wamphyri – und sie stanken nach Tod und Untod. Hier gibt es Fenster in
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