ENTWEIHT
sie sahen den felsigen Grund der Klippe, gegen den gemächlich die Wellen schlugen, auf sich zurasen ...
In London war es neun Uhr abends und, verglichen mit Griechenland, beinahe kühl. In den Hotels liefen die Klimaanlagen auf Hochtouren, und die Menschen auf den Straßen und in den Bars waren in Hemdsärmeln, um die spätsommerliche Stimmung zu genießen. Andere hingegen hatten noch zu tun.
In der Zentrale des E-Dezernats wurde noch gearbeitet. Trasks ESPer gingen ihren diversen Verpflichtungen nach, allerdings war dies ja auch keine normale Arbeit. Trask selbst war für heute beinahe fertig und freute sich bereits auf einen Drink und danach auf eine Mütze voll Schlaf. Er würde in der Zentrale übernachten, seit mittlerweile fast drei Jahren hielt er das nun so. Da er – immer noch – darauf wartete, dass Jake und Lardis Lidesci endlich bei ihm aufkreuzten, hatte er jede Menge Zeit für andere Dinge gefunden. Denn wenn es um Nachrichten, Mutmaßungen, überhaupt um Informationen über die Eindringlinge von der Sternseite ging, stand seine Bürotür stets offen.
Eine ganze Reihe von Leuten hatte ihn bereits aufgesucht, als Letzte kam Millicent Cleary. Millie war Telepathin und kannte sich bestens mit Computern aus. Sie zählte zu den Experten des E-Dezernats, mit denen Trask sich beriet, wenn etwas im Schwange war, zudem war sie eine seiner Lieblingsmitarbeiterinnen – die kleine Schwester, die er niemals gehabt hatte. Dabei war sie beileibe kein Kind mehr; das war keiner von der Truppe, die aus der »guten alten Zeit« noch übrig war. Nicht anders als Trask waren sie schon viel zu lange dabei, und das E-Dezernat hatte sie altern lassen.
Dies in etwa ging Trask durch den Kopf ... und schon in der nächsten Sekunde bedachte sie ihn mit einem Blick, den er von früher kannte.
»Falls das deine Vorstellung von einem Kompliment ist, dann behalte es lieber für dich. Die Sache mit der kleinen Schwester geht ja noch – denke ich mal – aber ich kann sehr gut ohne die vielen Falten auskommen, die du mir da gerade andichtest.«
»Aber, aber!«, machte Trask. »Na, so was! Da steht Millie Cleary vor einem und späht die Gedanken ihres Chefs aus.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich spähe dich nicht aus, ich mache mir bloß Sorgen um dich. Zufällig sehe ich nämlich jünger aus, als ich in Wirklichkeit bin, und ich fühle mich auch keineswegs alt, du hingegen schon. Und von Tag zu Tag wirkst du älter. Deshalb mache ich mir Sorgen um dich – großer Bruder!«
Sie sah in der Tat jünger aus und war ja auch bei Weitem noch nicht so alt wie Ben. Sie war eine attraktive Blondine Ende vierzig, wurde aber meist fünf Jahre jünger geschätzt. Ihr Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel und ihr ovales Gesicht umrahmte, wobei es die kleinen, zarten Ohren teilweise verdeckte, trug sie über der Stirn zu einem Pony geschnitten. Sie hatte blaue Augen, über denen golden bleistiftdünne Brauen schimmerten, und eine kleine, gerade Nase. Millies Zähne waren blendend weiß und nur ein klein bisschen unregelmäßig. Ihr Mund war ein wenig schief, aber oft nachdenklich. Mit ihren einsachtundsechzig hatte sie üppige Rundungen und eine schmale Hüfte, in ihrer Nähe kam Trask sich jedes Mal groß und stark vor, mitunter auch plump und schwerfällig. Er mochte sie sehr, und was ihn anging, würde er sogar die Augen zudrücken, hätte sie einen Mord begangen.
Doch da Trask sich ihres Talentes bewusst war, hielt er seine Gedanken unter Kontrolle – zugleich fragte er sich, weshalb – und wurde wieder geschäftsmäßig. »Also, was gibt‘s?«
»Ich glaube, ich habe vielleicht etwas«, sagte sie. »Du weißt doch, als du aus Australien zurückkamst, hast du mich gebeten, alles, was ich nur kann, über Jethro Manchesters finanzielle Angelegenheiten herauszufinden. Da du wusstest, dass Malinari Manchester zu einer Art, äh, Partnerschaft gezwungen hatte, hofftest du, Malinari womöglich über Überweisungen oder andere Transaktionen auf die Spur zu kommen? Nun, Manchester mag als Menschenfreund zwar eine große Nummer gewesen sein, aber wie es aussieht, war er doch nicht ganz der Weichling, für den die meisten ihn hielten. Und er war ganz bestimmt nicht auf den Kopf gefallen.« Sie hielt einen Augenblick inne, um ihre Gedanken zu ordnen, und fuhr dann fort:
»Und da ich nun mal ein – wie sagst du dauernd? – ›hinterhältiges weibliches Wesen‹ bin, kam es mir in den Sinn, dass er vielleicht wirklich nicht blöd
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