ENTWEIHT
benutzen, damit er es auf keinen Fall mitbekam. Und wenn sie mal auf die Toilette musste – was der Fall war –, dann musste sie so lange warten, bis er sich in seinem Bett hin und her wälzte, ehe sie durch die »Hintertür« und dann auf Zehenspitzen die nächtlichen Flure des E-Dezernats entlang zur Damentoilette schleichen durfte.
Nun, es war schon eine dumme Angelegenheit, aber im Grunde war dies gar nicht Liz’ Hauptsorge. Über diese Kleinigkeiten regte sie sich nur auf, um ihre Hilflosigkeit angesichts ihres eigentlichen Auftrags zu überspielen – sie musste nämlich nicht nur hier herumschleichen, sondern sollte sich auch noch in Jakes Geist stehlen.
Hilflos, ja, weil sie nichts daran ändern konnte; ihr war klar, dass Ben Trask recht hatte und dies überaus wichtig war – dass Jake ungemein wichtig war, und zwar nicht allein für das E-Dezernat und dessen Arbeit und die Welt im Allgemeinen. Denn darüber hinaus bedeutete er auch Liz sehr viel, und wenn er sie dabei ertappte, wie sie ihn schon wieder ausspähte, nun, das würde sie dann auch nicht weiterbringen!
Als Liz von der Toilette in ihr Versteck (als solches betrachtete sie es mittlerweile) zurückkehrte, stand Jake kurz vor dem Einschlafen. Und als sie ihre Gedanken zaghaft in seine Richtung sandte, empfing sie ein undeutliches Wirbeln, einen Eindruck, den sie sofort wiedererkannte:
Ein verträumtes Umherschweifen – fast ein geistiges Schlafwandeln – sein Unterbewusstsein befand sich auf der Suche nach einer Richtung, in die es sich wenden konnte ... unentwirrbare Sorgen, Ängste, ein rätselhaftes Verlangen ... nervös verlagerten sich mentale Muster ... die Verlockung, die von einem unglaublichen Strudel aus Ziffern, Symbolen und Gleichungen ausging – eine regelrechte Wand aus Zahlen, die Jake umgab, ihn abschottete und dennoch stets gerade noch außerhalb seiner Reichweite schwebte – wie ein mit einem Bewusstsein ausgestatteter Wirbelsturm, und ebenso schwer zu fassen.
All dies nahm Liz wahr und noch etwas anderes. Sie hatte das unheimliche Gefühl, dass er da drin nicht allein war ...
Nun, und das stimmte ja auch. Aber war es wirklich nur sie, Liz selbst, ein Widerhall ihres Eindringens, zurückgeworfen von Jakes nun im Großen und Ganzen entspannter Abschirmung? Oder etwas anderes? Handelte es sich womöglich um etwas, was der Necroscope, Harry Keogh, in Jakes Geist hinterlassen hatte, um über ihn zu wachen? Aber falls ja, weshalb schien Jake dann davor zurückzuschrecken?
Zwar stellte Liz sich diese Fragen nur innerlich, aber sie waren sehr intensiv, und als Telepathin hätte sie es eigentlich besser wissen müssen. Gedanken sind nun mal Gedanken, und Telepathie ist Telepathie. Ein empfänglicher Mensch, ganz gleich ob nun Mentalist oder nicht, wird mitunter auf das ungebetene Interesse eines begabten anderen aufmerksam (in der Regel spürt man ein Kribbeln im Nacken, eine Warnung, dass man beobachtet wird), und Jake Cutter war weit mehr als bloß empfänglich dafür.
Sofort wurde seine geistige Abschirmung stärker – und ebenso rasch zog Liz sich zurück! Zum Glück hatte er sie nicht bemerkt, oder falls doch, dann höchstens wie eine Fliege, die einem bloß einen Augenblick lang lästig fällt, ehe man sie verscheucht. Etwas anderes, weitaus Ernsteres hatte ihn gestört. Und das gab ihr zu denken: Wenn Jake seine Abschirmung nicht ihretwegen hochgefahren hatte, weswegen sonst?
Und wie schon oftmals zuvor überlief Liz unwillkürlich ein Schauder, wenn sie daran dachte, wer Jake war und wozu er imstande war, und sei es unbewusst. Jedenfalls: vorerst noch unbewusst.
Darum hielt sie es für das Klügste, auf Nummer sicher zu gehen und ihre Gedanken bei sich zu behalten, bis sie wirklich überzeugt davon war, dass Jake schlief. Der Haken daran war, dass Liz ebenfalls müde war, sodass ihr, als sie schließlich einnickte, die Unterhaltung im Zimmer nebenan, jenseits der dünnen Wände ihrer Zelle, entging.
Nun, sie hätte ohnehin nichts mitbekommen, da das Gespräch in der Totensprache geführt wurde, aber vielleicht hätte sie etwas gespürt, ein Schwanken in Jakes Emotionen wahrgenommen, und von da aus Rückschlüsse darauf ziehen können, ob er nein sagte oder widersprach oder womöglich versuchte, sich hitzig durchzusetzen – das war aber auch schon alles. Denn um die Totensprache wirklich zu verstehen, musste man nun mal tot sein.
Und nur ein Necroscope vermag es zu hören, wenn die Toten Antwort geben …
Du
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